Leichtes Beben
zurück zu seinem Wagen. Nachdem er etwa zwanzig Meter gegangen war, hörte er, wie der andere ihm nachrief: »Penner!«
Als Schindhelm am Nachmittag im Plattenladen stand und der neben der Kasse postierte Ventilator ihm surrend die warme Luft ins Gesicht blies, musste er wieder an den Mann am Kiosk denken. Tags zuvor hatte die Erde gebebt, doch die Erschütterungen hatten Schindhelm nicht wirklich erreicht. Leon, sein älterer |219| Sohn, hatte ihn im Laden angerufen und gesagt, in seinem Zimmer seien die Schwimmpokale aus dem Regal und in der Küche ein Bild von der Wand gefallen. Lukas, sein Jüngster, hatte ihn am Abend gebeten, bei ihm zu schlafen, weil er Angst hatte, das Beben könne sich wiederholen.
Liesbeth dagegen hatte so getan, als sei das Ganze nicht der Rede wert, und war noch am selben Abend mit der Erklärung wieder in die Stadt gefahren, sie wolle mit ihrer Freundin Annegret ins Kino gehen. Am übernächsten Tag würden sie zu viert mit den Jungs für zwei Wochen an den Gardasee fahren. Nach Sirmione
.
Bevor Liesbeth das Haus verlassen hatte, hatte Schindhelm, der bereits wieder leicht angetrunken war, sie im Flur zur Rede gestellt und gesagt: »Du triffst dich mit ihm, stimmt’s? Gib’s zu! Ich weiß es ja sowieso!«
Daraufhin hatte seine Frau ihn mitleidig angesehen, ganz ruhig ihren Hausschlüssel von dem Garderobenschränkchen genommen und, statt auf seine Frage zu antworten, gesagt: »Du trinkst zu viel, Armin! Denk doch bitte an die Jungs! Was sollen die denn von dir halten?«
»Die Jungs, die Jungs! Denkst du denn an die Jungs?«, hatte Schindhelm gebrüllt und war in die Küche gelaufen, wo er den im halbgefüllten Spülbecken liegenden Rosenstrauß, den er am Bahnhof für sie gekauft hatte, an sich riss, damit zurück in den Flur lief und Liesbeth nachwarf.
Als sie gegen halb drei nach Hause kam, lag Schindhelm |220| trotz des Alkohols, der in seinem Blut kreiste, immer noch wach. Liesbeth machte kein Licht, und Schindhelm lauschte im Dunkeln angespannt auf Geräusche, die sie verursachte, bis sie schließlich, nachdem sie sich im angrenzenden Bad abgeschminkt und die Zähne geputzt hatte, neben ihm lag. Er atmete ein paar Mal schwer ein und aus, dann sagte er: »Der Film hatte wohl Überlänge, was?«, drehte sich um und presste die Augen zu.
»Sie sollten versuchen, ihr nicht zu zeigen, wie sehr Sie unter der Situation leiden«, hatte Fitzek gesagt. »Das wird sie nur von Ihnen forttreiben und Sie selbst in eine schwächere Position bringen.«
Noch als sie im Bordrestaurant des Autozugs saßen und in Richtung Verona fuhren, musste Schindhelm an Fitzeks Worte denken. Liesbeth und die Jungs waren an ihren Plätzen geblieben, Leon hörte Musik, Lukas spielte Nintendo, das er zu Weihnachten bekommen hatte, und Liesbeth las den Roman eines jungen, weltweit gefeierten Autors, den Schindhelm ihr geschenkt hatte. Das Buch handelte von der Begegnung zwischen dem großen Weltreisenden Humboldt und dem legendären Mathematiker Gauß. Schindhelm hatte es kurz angelesen, bald aber nach einem Krimi eines von ihm favorisierten Schweden gegriffen.
Sie hatten die Reise nach Sirmione bereits zweimal unternommen. Der Autozug hatte sich als äußerst bequeme Reisemöglichkeit erwiesen, und das letzte Stück von Verona nach Sirmione war so schön, dass es ihnen bereits wie ein Teil des Urlaubs erschien.
|221| Liesbeth kam ihm während der ersten gemeinsamen Urlaubswoche ganz wie früher vor. Sie gefiel ihm in ihrer rasch zunehmenden Bräune, und gegen Ende der ersten Woche schliefen sie seit Monaten das erste Mal wieder miteinander. Schindhelm hatte sie zum Orgasmus gebracht, doch als sie ihn hinterher mit der Hand befriedigen wollte, stand Lukas plötzlich im Zimmer und sagte: »Mami, ich hab Durst!«
Schindhelm hatte das Gefühl, dass Liesbeth dabei war, zu ihm zurückzukehren. Und selbst den Jungs fiel sein plötzlicher Gemütswandel auf. Er konnte lachen, war zu Scherzen aufgelegt und registrierte mit Erleichterung, dass Liesbeth sich an ihn schmiegte, wenn er beim abendlichen Spaziergang am See seinen Arm um ihre Schultern legte.
Die nie ganz dunklen Nachtstunden bei stets geöffnetem Schlafzimmerfenster empfand Schindhelm als ein glückseliges Dahintreiben auf Wolken. Und wenn ihre Hand nach der seinen griff, hätte er manchmal weinen können vor Erleichterung. Das Rauschen in den Ohren verstummte, und die Gewaltphantasien, die ihn zu Hause gequält hatten, schienen einem alten Leben
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