Leichtes Beben
glaubst, dass das einfach so geht?«, sagte Claudia, »dass sich gemachte Erfahrungen, vor allem die schlechten, einfach so streichen lassen wie falsche Zahlen in einer Gleichung, bloß damit sie hinterher aufgeht?«
»Was heißt
einfach so
?«, sagte Elke unwirsch und schob das nicht ganz leere Kaffeeglas von sich, an dessen Innenwand hellbraune Schaumreste klebten und langsam in Richtung Glasboden absackten. »Wir haben, nachdem die Sache im Fahrstuhl passiert ist, die ganze Nacht geredet und hatten hinterher das sichere Gefühl, uns den Weg für einen gemeinsamen Neuanfang gebahnt zu haben.« Als sie mit der Zungenspitze über ihre oberen Schneidezähne fuhr, glaubte sie plötzlich, den gefährlichen Belag spüren zu können, den der Zucker darauf hinterlassen hatte. Am liebsten hätte sie auf der Stelle ausgespuckt.
»Wie schön für euch«, sagte Claudia knapp und machte der Bedienung ein Zeichen.
»Wieso bist du denn jetzt so?«, sagte Elke. »Passt es |232| dir etwa nicht, dass ich, im Gegensatz zu dir, noch mal die Chance zu einem Neuanfang habe?«
»Unsinn!«, antwortete Claudia und strich sich eine Haarsträhne aus der hohen Stirn. Ihre schönen dunklen Augen funkelten angriffslustig. »Ich glaube nur einfach nicht, dass ihr beide so tun könnt, als hätte es all das, was euch noch vor kurzem zu erbitterten Feinden gemacht hat, nie gegeben.«
»Das tun wir ja gar nicht«, widersprach Elke heftig. Plötzlich fühlte sie sich niedergeschlagen.
»Ach, ist schon okay, entschuldige«, winkte Claudia ab, die sah, was sie mit ihrer Beharrlichkeit angerichtet hatte. Sie legte der Bedienung, die neben ihr stand, das Geld für den Kaffee auf den Tisch, erhob sich und sagte: »Ich muss los.«
»Aber ich …«, hob Elke an und sah zu, wie Claudia sich einen Riemen ihres Lederrucksacks über die Schulter schob.
»Wir sehen uns«, sagte Claudia mit einem unverbindlichen Lächeln, drehte sich um und verschwand.
Elke hätte noch so viel zu sagen gehabt, über sich und Klaus und über ihre gemeinsame Zukunft und was sie darunter verstanden. Sie dachte an Klaus und stellte sich wieder vor, wie er sie angesehen hatte, im Aufzug, als draußen auf dem Flur Stimmen zu hören gewesen waren und sie einfach den Nothebel umgelegt hatte, um noch länger ganz allein mit ihm in der Kabine sein zu können.
Kurz darauf lief sie durch die regnerischen Straßen, vorbei an Schaufenstern, in denen sich ihre Silhouette |233| bewegte wie eine gesichtslose Verfolgerin, und da überkam sie plötzlich eine unbestimmte Sehnsucht. Nach Hause in die leere Wohnung wollte sie nicht. Klaus war für zwei Tage geschäftlich verreist. Und als sie auf der gegenüberliegenden Straßenseite die geschwungene, rosafarbene Leuchtreklame eines Kinos entdeckte, überlegte sie nicht lange. Sie überquerte die Straße, studierte kurz das Programm und entschied sich für eine Komödie mit dem Titel »Selbst ist die Braut«
,
in der Sandra Bullock die Hauptrolle spielte. Ihre Uhr zeigte kurz nach halb sechs, die Werbung, die vor den Filmen lief, musste bereits begonnen haben. Wer ging schon an einem ganz gewöhnlichen Donnerstag um halb sechs ins Kino, um sich eine Komödie mit Sandra Bullock anzusehen, die den nicht gerade tiefsinnigen Titel »Selbst ist die Braut« trug? Doch Elke kaufte eine Karte und, weil sie plötzlich darauf Lust verspürte, auch eine kalte Coca-Cola.
An der Wand neben dem Kassenhäuschen lehnte ein mittelgroßer, mit einer dunklen und feucht-glänzenden Lederjacke bekleideter junger schwarzhaariger Mann, der sie musterte. Sein Gesicht war hager und bartschattig, und über den kleinen, wachsamen Augen wölbten sich zwei buschige, ebenfalls pechschwarze Brauen. In der Hand hielt er eine Eintrittskarte.
Elke ging an ihm vorbei, ohne ihn anzusehen, hielt dem Türsteher ihr Ticket hin, der es kurz prüfte und eine Ecke abriss. Dann tauchte sie ein in die Dunkelheit des Saals.
Sie setzte sich in die vorletzte Reihe, stellte die Flasche in die am Vordersitz angebrachte Halterung und |234| ihre Tasche auf den Nebensitz. Sie streifte ihre Jacke ab und versank in dem angenehm plüschigen Polster des Sitzes.
Neuanfang? Ein optimistisch klingendes, ein Mut machendes Wort. Doch würde es ihnen auch wirklich gelingen, das Alte hinter sich zu lassen, um das Neue nicht zu gefährden? Claudia hatte Zweifel daran geäußert. Und sie selbst? Was war mit ihr? War sie tatsächlich stark und entschlossen genug, um Klaus neu sehen zu können? Als
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