Leichtes Beben
lag und ihre Entspannungsübungen machte: eine Fliege, die leise summend durch ein Zimmer schwirrt. Der Atem nach einem langen Kuss. Das friedliche Klappern einer Schreibmaschine.
Sie konnte sich nicht genau erinnern, wann sie das letzte Mal Sex gehabt hatte. Das musste mit Hendrik gewesen sein. Sie war einunddreißig und wünschte sich ein Kind. Doch sie hatte ja nicht mal einen Freund, und seit sie die Medikamente nahm, war ihre Lust praktisch gleich null. Doch weshalb dachte sie ausgerechnet jetzt an Sex? An einem Ort wie diesem?
Mia griff nach der vor ihr stehenden Tasse, kam dabei aber so ungeschickt gegen den Griff des auf dem Unterteller liegenden Löffels, dass er über den Rand des Tabletts glitt und klappernd zu Boden fiel.
Sie drückte mit den Oberschenkeln die Sitzfläche des Stuhls nach hinten, um aufzustehen und den Löffel |325| aufzuheben. Doch der Fremde neben ihr war schneller und hielt ihr den Löffel bereits hin.
»Oh, vielen Dank«, sagte Mia. Sie lächelte, legte den Löffel auf ihr Tablett und besah sich den Mann nun ein wenig genauer. An seinen dunklen Schläfen zeigten sich erste graue Haare, ihrer Schätzung nach mochte er Anfang vierzig sein.
Früher hatte sie bei jedem halbwegs gutaussehenden Mann überlegt, ob er für sie in Frage käme. Doch seit die Tabletten ihre Libido in einen Dauerschlaf versetzt hatten, war ihr dieses Spiel fad geworden. Und seit Hendrik sie verlassen hatte, waren Männer ein Film, der in dem kleinen Kino ihres Herzens nicht mehr lief.
Sie nippte gedankenverloren an ihrer Tasse, als der Fremde sich zu ihr hindrehte und sagte: »Ziemlich trauriger Ort um diese Zeit, nicht wahr?«
»Kann man wohl sagen«,antwortete Mia überrascht und spürte, dass sie rot zu werden begann. Sie musste daran denken, wie sie vor den Schülern gestanden hatte und immerzu rot geworden war, wenn sie versuchte, etwas an der Tafel zu erklären. Das war so weit gegangen, dass sie zuletzt bereits rot wurde, wenn sie nur den Klassenraum betrat. Manchmal sah sie sich noch in ihren Träumen vor den Schülern stehen, die sie erwartungsvoll ansahen.
»Lehrerin? Was für ein schöner Beruf!«, hatte der Psychiater gesagt, als sie ihm von ihrer Arbeit erzählte.
»Ja«, hatte Mia darauf geantwortet und resigniert hinzugefügt: »Aber leider keiner für mich.«
»Ich bin wegen meines Vaters hier«, sagte Mia, ohne dass der Fremde sie nach dem Grund für ihre Anwesenheit |326| gefragt hätte. »Er ist offenbar ziemlich schwer krank. Aber etwas Genaues weiß man noch nicht.«
»Das tut mir leid«, sagte der Fremde und nahm einen Zug aus seiner Zigarette.
»Ja«, sagte Mia, die gleichzeitig krampfhaft überlegte, wie sie die begonnene Konversation fortsetzen könnte. Schließlich sagte sie: »Und weswegen sind Sie hier?«
Der Fremde sagte: »Meine Freundin bekam plötzlich keine Luft mehr. Ich habe gedacht, sie sei tot, weil sie nicht mehr geatmet hat, und habe sofort den Notarzt gerufen.«
»Wahrscheinlich hat sie einfach nur etwas Schlechtes gegessen. Da kann man schon mal ohnmächtig werden«, sagte Mia und erschrak über die Dummheit ihrer Worte. »Ja, vielleicht«, sagte der Fremde, doch es klang in Mias Ohren so, als sei er mit seinen Gedanken bereits längst woanders. Da nahm sie allen Mut zusammen und sagte: »Ich wollte sagen, dass man doch nie genau sagen kann, weshalb so etwas so plötzlich geschieht!« Und ein paar Sekunden später fügte sie hinzu: »Ach, ich bin einfach so durcheinander im Moment. Das alles ist so verdammt kompliziert.«
»Das ist doch verständlich«, sagte der Fremde und legte die Zeitung, nach der er eben gegriffen hatte, wieder zur Seite. »Was ist denn mit Ihrem Vater?«
»Er ist zusammengebrochen und hat manchmal Schwierigkeiten, sich zu orientieren. Deshalb wollen sie ihn für eine Zeitlang in eine geschlossene Abteilung verlegen. Zu seiner eigenen Sicherheit, wie sie sagen, um ihn vor sich selbst zu schützen.«
|327| Ihre Mutter war vor einem Jahr gestorben, und nun brachte man ihren Vater vor sich selbst in Sicherheit. Einen Menschen, der Tauben liebte und sich nichts Schöneres denken konnte als dass zwei Erdplatten sekundenlang nicht zu fest gegeneinanderstießen.
»Das muss doch gar nichts Schlechtes sein«, sagte der Fremde, um sie zu trösten. »Ich bin Kaufhausdetektiv, und wenn wir dann oben in meinem Büro sitzen und mir eine Mutter, deren Sohn ich beim Klauen erwischt habe, sagt, es täte ihr ja so furchtbar leid, dann kann ich nur
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