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Leichtmatrosen: Roman (German Edition)

Leichtmatrosen: Roman (German Edition)

Titel: Leichtmatrosen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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unbemerkt – unsere verblüffend schmale Zeche (die Schnäpse wurden umgehend abkassiert) und wartete noch ein paar Minuten. Henner sprang auf, als ein völlig unmöglicher Song begann, zerrte die Braut auf die Wiese und tanzte mit ihr eine Mischung aus Blues und Pogo, was mich kurz überlegen ließ, seine Digitalkamera zu ergreifen und sie im Videomodus auf das Geschehen zu halten. Simon rauchte fünf oder sechs Zigaretten gleichzeitig, Mark hatte sich so weit zurückgelehnt, dass er jeden Augenblick von der Bank fallen konnte, und starrte mit weit aufgerissenen, leicht blutunterlaufenen Augen in den kobaltblauen Himmel. Erste Sterne zeichneten sich ab.
    »Wir müssen zum Ankerplatz aufbrechen«, sagte ich, als endlich wieder alle am Tisch saßen und Henner wild fuchtelnd in alle Richtungen nach der Kellnerin winkte, um die zwanzigste oder dreißigste Schnapsrunde zu ordern. Die drei anderen nickten, als hätte ich etwas völlig Unwichtiges verkündet, doch dann standen sie zaghaft protestierend auf und trotteten mir hinterher, mit sehnsüchtigen Blicken zum Brauttisch, an dem sich soeben eine Angehörige der »Braut-Security« in Richtung Wiese drehte, um sie mit einem Schwall Erbrochenem zu dekorieren. Und dann sah ich noch, wie die beiden Frauen, von denen ich geglaubt hatte, sie hätten ihre Bootsangst überwunden, rote Klappräder wie das unsrige in einem Taxi verstauten, einstiegen und davonfuhren.
    Immerhin war es noch nicht völlig dunkel, als ich, in Begleitung einer fast komplett weggetretenen Besatzung, wenig später rechts von uns den kleinen Lankensee ausmachte. Ich steuerte das Schiff dorthin, Mark musste den Heckanker dreimal wieder einholen, bis die Leine spannte (wobei er zweimal beinahe ins Wasser fiel), während Henner und Simon unter viel Gelächter am Buganker hantierten. Mark hatte zwei weitereschnelle Runden Bier spendiert, während wir uns auf dem Weg zum Ankerplatz befanden, aber ich hatte mich zurückgehalten, und als wir jetzt am großen Tisch im Salon hockten, zeichnete sich deutlich ab, dass mit meinen Besatzungskollegen heute nicht mehr viel anzufangen wäre. Simon und Henner rauchten noch ein paar Zigaretten, dann zogen alle drei unter viel Gepolter – der Pfarrer stieß sich ziemlich heftig den Kopf – unter Deck, rumorten lautstark in den engen Bädern und ihren Kabinen herum, bis eine Viertelstunde später schlagartig eine Stille eintrat, die beinahe beängstigend war. Ich schloss sorgfältig das Dach, alle Türen und Fenster, schaltete das Ankerlicht ein, streifte Jeans und ein langärmliges Hemd über, schnappte mir einen Becher Mousse au Chocolat (wobei ich feststellte, dass zwei fehlten, was mich aber überraschenderweise kaum ärgerte – ich nahm an, dass Simon der Täter war), ein Bier und ging auf die Heckterrasse. Der Mond – halbvoll oder -leer, je nachdem – hing dicht über den Baumwipfeln, hin und wieder ertönten die nächtlichen Rufe verschiedener Waldbewohner, und aus südwestlicher Richtung war gelegentlich ein sehr leises, tiefes Pochen zu hören, von der Musikanlage des Biergartens, wie ich vermutete. Als sich meine Augen an das Dunkel gewöhnt hatten, traten mehr und mehr Sterne hervor, bis das Firmament von kleinen Leuchtpunkten übersät war. Das Mondlicht tanzte auf den schwachen, langsamen Wellen des Sees, und erst jetzt entdeckte ich, dass auf der anderen Seite, aber kaum mehr als acht oder zehn Bootslängen von uns entfernt, zwei weitere Schiffe ankerten, große, offenbar hölzerne Kästen, die miteinander vertäut waren. Das leichte gelbliche Flackern, das ich dort wahrnahm, wies vermutlich auf Kerzenlicht hin – Geräusche waren nicht zu hören.
    Ich war allein auf der Welt, aber es war nicht Einsamkeit, was ich in diesem Moment fühlte, sondern eine keineswegs negative Kleinheit , die das Durcheinander namens Leben, dasich derzeit führte, stark relativierte und fast bedeutungslos erschienen ließ. Ich dachte an den Tanz mit der Brautjungfer, an die Begegnung in der Schleuse Steinhavel und dann – an Cora. An jenen seltsamen Nachmittag vor drei Wochen, der, wie ich augenblicklich – aber viel zu spät – feststellte, nicht nur eine Wende in unserer Beziehung markiert hatte, sondern mit ziemlicher Sicherheit ihr unwiderrufliches Ende.

23 Tage vorher:
Lavieren
    Lavieren – kreuzen,
sich hindurchwinden.

Im Herbst 2006 wurde aus meinem Arbeitgeber, einem der wenigen größeren, unabhängigen Belletristikverlage, die es zu diesem Zeitpunkt noch

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