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Leichtmatrosen: Roman (German Edition)

Leichtmatrosen: Roman (German Edition)

Titel: Leichtmatrosen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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löste kaum mehr als ein teilnahmsloses Nicken bei mir aus. Wir passierten einander, und ich lernte etwas darüber, wie flexibel Pflanzen sind und dass Wasser auch dann noch vorhanden sein kann, wenn man es nicht sieht, aber ich fühlte mich betrogen. Irgendwo mussten die Scheißkanus doch sein! Nur – wo?
    Wenig später gab sich das. Ich betrachtete den sich zuziehenden Himmel, nahm die Schwüle wahr, eine feuchte Hitze, die Unheil verkündete, aber auch Abenteuer, erklärte dem wissbegierigen Jungen die Gewässerkarte und sah Mark dabei zu, wie er eine Teleskopangel untersuchte, die offenbar ein voriger Kunde an Bord vergessen hatte. Dann klickte ich mich durch Dutzende gleichlautende Kurznachrichten von Cora, trank Wasser, Kaffee und sogar Cola – erstmals seit mindestens zehn Jahren –, inventarisierte Simons Zigarettenbestand (Nachkauf spätestens übermorgen), wusch das Geschirr ab, versuchte gemeinsam mit Finn-Lukas herauszufinden, warum es hier keine Gezeiten gab, las einen Absatz über Antriebsmaschinen im Führerschein-Lehrbuch, entwarf eine Einkaufsliste für den nächsten Proviantkauf, reinigte den verschlammten Heckanker im sprudelnden Kielwasser, versenkte die Spinne vom gestrigen Abend im Kanal, dachte an Simon, der wahrscheinlich, während Walters Kahn irgendwo ankerte, gerade zum fünften Mal Sofie zum Schreien brachte, summte »Slow Love« und ärgerte mich darüber, als ich esmerkte, überprüfte die Klettverschlüsse der Rettungswesten, zählte Pflöcke, sortierte neue Bierflaschen aus dem Stauraum am Heck in den Kühlschrank so, dass die kühlsten zuoberst lagen, prüfte die Batterien der albernen Taschenlampe, die zur Ausstattung gehörte, stellte Müllsäcke für den nächsten Landgang bereit, wischte den Tisch im Salon, reinigte dann die vier Aschenbecher und fand mich schließlich auf dem Vordeck wieder, Schleuse Kannenburg und damit der Biergarten des Grauens direkt voraus. Was ich getan hatte, hatte keine zwei Stunden in Anspruch genommen, aber ich fühlte mich trotzdem leer. Der Blues hatte mich voll erwischt – und ich wusste nicht einmal, warum genau.

    Es wurde früher Mittag, bis wir die Schleuse Schorfheide erreichten, deren Wartestelle voll besetzt war, so dass wir am Ende der Schlange gemeinsam mit zwei unförmigen Kajütbooten eine Position im freien Wasser halten mussten. Strömung gab es kaum, aber Henner ließ dennoch im Zehn-Sekunden-Takt Motor und Bugstrahlruder aufröhren, mit angestrengt zusammengekniffenen Augen und sein gepflegtes Shirt (Nummer siebzehn oder achtzehn) durchschwitzend, bis ich ein Erbarmen hatte und ihn ablöste, seine Taktung auf zwei Minuten erhöhend. Mark und Finn-Lukas spielten draußen Karten – eine der zehntausend UNO -Varianten –, aber als ein Stoß des stärker werdenden Windes die Karten beinahe über Bord fegte, hörten sie auf. Es war fast vollständig zugezogen, doch nach wie vor bullig warm. Die sich schnell bewegenden Wolken hingen tief, hin und wieder tastete noch eine fächerförmige Anordnung von Sonnenstrahlen über die Landschaft, aber auch das endete, und es wurde dunkler, beinahe dämmrig. Als wir so weit vorgerückt waren, dass wir beim nächsten Mal würden einfahren können, fielen die ersten Regentropfen. Henner schloss, begleitet von Ächzgeräuschen, das schwergängige Dach, Finn-Lukas sammelte die zum Trocknenaufgehängte Wäsche ein. Ein sanftes, unregelmäßiges Platschen setzte ein, ein leises Klopfen, als würde jemand nervös mit den Fingern aufs Dach trommeln. Die bisher leicht wellige Wasseroberfläche nahm eine andere Textur an, ein fast beschauliches, gleichmäßiges Muster. Dann flackerte das Licht, kurz darauf ertönte ein gewaltiger, sekundenlanger Donnerschlag, der so hohe Intensität hatte, dass ich glaubte, das Boot würde erzittern. Finn-Lukas klammerte sich an Henner und sah ihn angstvoll-fragend an. Der Pfarrer aber schien nicht weniger besorgt. Er presste seine Nase an die Frontscheibe, starrte dann mich und Mark an, aber wir lächelten nur. Regen halt. Gewitter. Wir waren sicher.
    Oder? Sollten wir vielleicht Buchen suchen? Wie machte man das mit einem tonnenschweren Fünfzehn-Meter-Kahn?
    Der Regen setzte aus, als würde er Atem holen, und dann, eine Viertelminute später, verschwand von einem Augenblick zum nächsten die Welt. Das Wasser, das ich nur noch in unmittelbarer Bootsnähe sehen konnte, wurde zu einem brodelnden, schäumenden Gesiede, doch die Oberfläche blieb relativ flach, das Prasseln

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