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Leichtmatrosen: Roman (German Edition)

Leichtmatrosen: Roman (German Edition)

Titel: Leichtmatrosen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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Mann hatte offenbar etwas anderes zu tun, bis der Regen einsetzte. Sonst hätte er gesehen, dass wir nicht vorher abgelegt haben.« Er drehte sich zu Mark, den Blick auf dessen Schritt gerichtet, als hinge da ein besonders bemerkenswertes Kruzifix. »Juckt das nicht? Durch die nachwachsenden Haare?«
    Mark betrachtete sein eigenes Gehänge und kratzte sich an einer Stelle dicht darüber. Vor einer Woche, bei unserem letzten Sportabend vor Reiseantritt, hatte er noch wolliges Schamhaar gehabt. Er nickte. »Manchmal. Aber ich find’s lässig. Sieht ein bisschen komisch aus, aber man gewöhnt sich dran.«
    Hinter unserem fuhren weitere Schiffe ein, die Schleuse war wieder offiziell in Betrieb, und die Blicke der anderen Bootsbesatzungen hingen synchron am nackten Mark, derbis auf Flipflops nichts trug, jetzt anzüglich lächelte, sich in Richtung der Zuschauer verneigte und aufs Boot zurückkletterte. Weiterhin nackt, wie ihn die Evolution geschaffen hatte, nahm er am Bug Platz, löste die Leine und hielt sie. In seinem Gesicht war ein kindliches Lächeln, um das ich ihn beneidete – ich bin mein eigener Herr, besagte es. Wer sich schämt, schämt sich . So, wie man sich ärgert, wenn man sich ärgert.
    »Haben Sie Signal gegeben?«, fragte Henner den Mann, der die kleine Jacht steuerte, die jetzt hinter der Dahme lag, auch ein Charterboot mit entsprechender Werbung. »Als es geregnet hat?«, ergänzte er.
    Der Mann nickte, ein hagerer Endvierziger im Trainingsanzug. »Ihr solltet aufrücken. Hinten hingen fünf Boote im freien Wasser, die anlegen wollten. Und ihr Chaoten fahrt einfach los, bei dieser Sicht. Ihr seid eine Gefahr. Man sollte euch anzeigen.« Er schüttelte den Kopf, und seine Frau, eine dünne, kurzhaarige Blondine, die – wie bisher jede Frau, die ich auf einem Schiff gesehen hatte – am Bug saß, nickte.
    »Kümmern Sie sich bitte um Ihren eigenen Scheiß«, sagte Henner barsch. »Und geben Sie demnächst eindeutigere Signale, wenn Sie was wollen. Oder bemühen Sie Ihren faulen Arsch und sagen Sie es einfach. Ein Signal, wie Sie es gegeben haben, steht für ›Achtung!‹ und nicht für ›Bitte aufrücken‹ oder Ähnliches. Signale sollte man nur geben, wenn die Situation das erfordert – und nicht nach Lust und Laune oder weil es, verdammt noch mal, regnet .«
    Ich sah Henner an, etwas konsterniert, denn es schien mir nicht gerade klug, einen Augenzeugen zu provozieren, solange der Mann im Regenanzug keine zwanzig Meter weit weg ein Pausenbrot mümmelte – und jederzeit auftauchen konnte.
    Aber der Pfarrer lächelte nur sardonisch, stieg an Bord, und dann schleusten wir wieder einmal. Während der Wasserspiegel allmählich stieg – ganze sechzig Zentimeter Hub hatte dieSchleuse –, schnappte ich mir Marks Badehose und brachte sie ihm. »Ich find’s im Prinzip okay, aber vor dem Jungen ist’s schon etwas merkwürdig.« Mark nickte und streifte sich das Ding über.

    Die Sonne erschien wieder, die inzwischen spiegelglatte Wasseroberfläche dampfte, und der Duft, der uns umfing, war einfach unglaublich – frisch, frühlingshaft, facettenreich, süß und herb zugleich. Die Libellen erhoben sich aus den Pflanzen, auf denen sie das Gewitter abgewartet hatten, und dann rief Finn-Lukas plötzlich, nach oben weisend: »Seht doch! Ein Adler! Ein Seeadler!«
    Und da war er tatsächlich, ein braunschwarzer Vogel mit am Ende weit gespreizten Flügeln, geschätzt zwei Meter Spannweite, an Kopf und Schwanz etwas heller, fast weiß. Mit gelassener Eleganz schwebte er über die Havel hinweg, in kaum fünfzehn Metern Höhe, drehte zwei Kreise über den Wäldern rechts vor uns, verschwand schließlich in der Ferne.
    »Mann, ein echter Adler«, sagte Mark. »Fast wie auf Walters Bootsführerschein.«
    Ein Adler. Ich hatte einen lebenden Adler gesehen. Jetzt würde mich nicht einmal mehr eine Herde Orang-Utans überraschen.
    Gute zwei Stunden später trafen wir an der Schleuse Bredereiche ein, seit Schorfheide gefolgt vom Boot des dürren Hupers und vier anderen Schiffen. Dadurch, dass es keine Zufahrten oder Ankerplätze gab und sich alle stoisch an die Geschwindigkeitsbegrenzung hielten, hatten wir auch gemeinsam die Schleusen Zaren und Regow passiert. Ich war ein bisschen froh, die Verfolger hinter dieser vorerst letzten Schleuse loszuwerden. Es war kurz vor halb drei.
    Henner ließ sich von Finn-Lukas Walters Handynummer geben. Die anderen drei warteten bereits in einer Gaststätte jenseits der Schleuse

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