Leichtmatrosen: Roman (German Edition)
fühlte mich diesen drei Typen aber plötzlich sehr verbunden und hielt es für eine irrsinnig tolle Idee, mit ihnen Urlaub zu machen. Nüchtern hätte ich es nicht einmal für eine tolle Idee gehalten, zufällig mit ihnen gemeinsam dieselbe kleinstadtgroße IKEA-Filiale aufzusuchen. Weil Henner verhaltensgestört war, weil Simon – ohne das zu wollen – gemeingefährlich war, weil Mark alles zuzutrauen war. Eine Mischung, aus der geschichtsverändernde Katastrophen entstanden. Außerdem kannten wir uns kaum.
»Prima Idee«, sagte ich in das Abschiedsgemurmel meines Großhirns.
»Wir könnten sofort buchen«, sagte Henner und legte das Tablet auf den Tisch. »Per Kreditkarte.« Das Wort überforderte ihn, deshalb zog er einfach seine Geldbörse aus der Hose und schnippte eine goldene Amex neben den Kleincomputer. »Wollen wir?«
Wir sahen uns an. Ich sah Henner an, dann Simon und schließlich Mark, der blöd grinste. Alle nickten, also nickte ich auch.
Drei Minuten später hatten wir gebucht.
»Last minute«, sagte Henner. »Kein Rücktrittsrecht, bei Storno entspricht die Gebühr der Bootsmiete.«
»Storno?«, krähte Mark und nahm die nächste Ladung Ouzo entgegen. »Wer storniert hier?«
»Keiner!«, rief Simon und winkte gleich wieder nach einem Spyros. »Darauf müssen wir anstoßen. Vier Mann auf einem Boot.«
Ich war außerstande, Einspruch einzulegen. Niemand kann das nach einem guten Dutzend Ouzos plus X Bieren, wobei X eine natürliche Zahl größer als Fünf ist. Morgen früh wäre ich dazu in der Lage, und ich wusste bereits, mit welchen Argumenten. Aber keines davon konnte ich in diesem Moment erreichen. Bootsurlaub mit dem seltsamen Pfarrer, dem chaotischen Tapezierer und dem jungenhaften, impulsiven Selfmadewasauchimmer.
Bootsurlaub. Meine einzige Erfahrung in dieser Hinsicht bestand zu diesem Zeitpunkt aus der Anmietung eines behäbigen Ruderboots, mit dem Cora und ich einen Tag lang irgendeinen See in Brandenburg befahren hatten. Aber ich hätte ja noch zweieinhalb Wochen, um mir eine Ausrede einfallen zu lassen.
Doch ich fand keine.
Tag 6:
Schwojen
Schwojen – das Hin-
und-her-Drehen eines Schiffes
vor Anker oder an einer Ankerboje.
An ein Erwachen, das diesem auch nur entfernt ähnelte, gab es in meinem zerdrückten, lahmen, überflüssigen Schädel keine Erinnerung. Meine Augen klebten, mein Körper schmerzte, mein Schwengel brannte wie der Kern der Sonne, meine Blase drückte auf alle benachbarten Organe. Den Mund bekam ich kaum auf, er war taub, trocken, kam mir verkleinert vor, mein Gaumen war pelzig, meine Zähne waren pelzig, meine Lunge pfiff, sogar Nase und Ohren taten mir weh. Ich stöhnte und musste vom Stöhnen stöhnen. Ich verspürte nie gekannten Harndrang, roch plötzlich intensives Urinaroma, als würde jemand meine innere Wahrnehmung olfaktorisch kommentieren. Ich verspürte nicht den geringsten Drang, aufzustehen, um dem Harndrang nachzugeben. Eine oberflächliche Inventur ergab zudem, dass ich in Embryofötalstellung seitlich an der Wand lag und zugleich das merkwürdige Gefühl hatte, dass die Welt schief war. Möglich aber, dass es – auch – meinen Gleichgewichtssinn erwischt hatte. Ich versuchte, mich zu strecken und zu drehen, aber mein Körper signalisierte nur geringe Kooperationsbereitschaft. Mir war schlecht, aber nicht übel. Ich dachte an Euthanasie und hätte einem guten Euthanasisten sofort jede Summe gezahlt. Mir war kalt, obwohl die Luft in der überhitzten Kabine stand. Mücken und Fliegen summten umher. Jede Menge davon. Draußen quakte eine Ente.
Der Blick verlagerte sich unvermeidlich auf die geistige Ebene. Ich wusste sofort wieder, was geschehen war, jedenfalls bis zu dem Zeitpunkt, als alles und alle aussetzten. Umgehend bemächtigte sich eine Gänsehaut meines Körpers, ich verspürte universumsgroße Peinlichkeit und den Wunsch, alles ungeschehen machen zu können. Ich schämte mich undfühlte mich etwas besser durch die Scham. Ich streckte mich endlich, drehte mich langsam zur anderen Seite – hier war definitiv etwas schief – und hangelte mich mühevoll in den Stand. Ich war nackt. Mein Schwanz glühte hellrot. Außerdem glänzte er seltsam. Das Abziehen des Gummis tat weh.
Mein fahlgelber Urinstrahl traf das Waschbecken, aus dem es intensiv nach Pisse stank, erst fast nicht. Ich musste einen halben Schritt zur Seite machen. Ich stöhnte wieder und kämpfte gegen den Würgereiz an. Sah auf die Uhr: kurz vor zwölf. Mittags. Ich
Weitere Kostenlose Bücher