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Leichtmatrosen: Roman (German Edition)

Leichtmatrosen: Roman (German Edition)

Titel: Leichtmatrosen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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ließ mich wieder aufs Bett fallen, schlief kurz ein und erwachte Momente später.
    Im Gang war es ruhig. Ich hielt mich beiderseits an den Wänden fest, konzentrierte mich auf meine Füße, ignorierte die merkwürdige Weltlage. Irgendwo gluckerte es. Stufen. Eine, zwei, drei, oben. Und dort: Chaos.
    Es stank nach Kneipe, Puff, Müllkippe. Überall lagen Flaschen und Gläser, Scherben, Zigarettenkippen, Kondome. Gewürzgurken. Mousse-Becher. Zusammengefallene geronnene Streifen von Sprühsahne. Zigarettenschachteln. Kissen. Zwei Gardinen waren heruntergerissen, aber ich wagte noch nicht, aus dem Fenster zu sehen. Etwas schnarrte – das Radio. Ein Nylonstrumpf. Turnschuhe. Zerknüllte Shirts. Meine Badehose. Ein Gestank wie in einem Ghetto aus einem Endzeitfilm.
    Weiter zur Hecktür. Meine Kräfte reichten kaum aus, sie zu öffnen. Vor mir Gebüsch, Wald, in jedem Fall Ufer – wir steckten mittendrin, und zwar rückwärts. Das Schiff lag auf der Seite, zwei Libellen tanzten direkt vor meiner Nase vorbei und schienen mich auszulachen. Ich beugte mich vor und kotzte über die Reling. Minutenlang. In Schüben, immer wieder, meine Augen tränten, meine Nase rann, ich wischte sie am Unterarm ab. Dann ging es mir etwas besser. Fünf Prozent vielleicht. Damit lag ich bei fünfundzwanzig insgesamt. Ich hob den Blick.
    Es war trüb, wahrscheinlich bewölkt und ziemlich dunstig, höchstens fünfzig Meter Sicht, außerdem nieselte es – die zweitfieseste Form von Niederschlag. Cora hatte das mal »Petting-Regen« genannt: nichts Halbes und nichts Ganzes, im Abgang unbefriedigend und währenddessen letztlich auch. Cora . Ich sah sie vor mir, als wäre sie wirklich da, und schämte mich wieder. Unendlich.
    »Großer Gott«, sagte eine leise, krächzende Stimme hinter mir. Ich drehte mich vorsichtig um.
    Seine Augen waren winzig und glutrot, seine Körperhaut – er trug nur einen Feinripp-Schlüpfer – blass, rotfleckig und mit Millionen blühenden Mückenstichen übersät. Aus seinen Lippen war alles Blut gewichen, die spärlichen Haare standen strubbelig, sein Oberkörper zitterte, bebte fast. Er hielt sich am Küchenschrank fest. Und er lächelte .
    »Noch nie«, krächzte er. »Noch nie in meinem Leben hatte ich solchen Spaß.« Henner hustete schwer, schob sich an mir vorbei, ging in die Hocke und reiherte ebenfalls über Bord. Aber zwischendrin hob er immer wieder den lädierten Schädel, sah mich mit Augen an, die man für jedes beliebige Trash-Horrorfilm-Plakat hätte verwenden können, und nuschelte: »Scheiße, war das geil.«
    Wir teilten uns die letzte Anderthalbliterflasche Mineralwasser, tranken gierig, aber vorsichtig. Henner holte Kopfschmerztabletten, denen wir beim Sprudeln zusahen, dann warteten wir ab, bis die Kohlensäure gewichen war, rührten in den Gläsern wie Nutten im billigen Champagner, damit sie von der allabendlichen Überdosis kein Sodbrennen bekommen. Wir setzten uns auf die schräge Heckterrasse. Es war vermutlich warm, aber meine Sensorenphalanx lief auf Notstrom – ich hatte nach wie vor eine Gänsehaut. Henner schüttelte immer wieder äußerst langsam den Kopf, körperlich mindestens so sehr im Eimer wie ich auch, aber er grinste unaufhörlich, mit zitternden Lippen.
    Irgendwann setzte er Kaffeewasser auf, musste aber wegen der Schräglage des Bootes – zehn Prozent mindestens – die Kanne dabei festhalten. Wir schlürften heißen Kaffee, der nach dem Boden eines jahrzehntelang ungereinigten Mülleimers schmeckte. Trotzdem tat es gut. Meine Müdigkeit verschwand allerdings nicht; ich verspürte das dringende Bedürfnis, mich in ein richtiges Bett mit gewaltiger Daunendecke zu mummeln und tagelang einfach nur zu schlafen.
    Dann schlichen wir langsam herum und nahmen eine Bestandsaufnahme vor, sammelten wie zur Hausarbeit verdonnerte Trisomiepatienten Flaschen und Müll auf, mussten aber ständig pausieren, den Blick nach draußen richten, weil die Wahrnehmung verschwamm.
    Nach einer oder zwei Stunden sah es ein bisschen besser aus, in mir hatte sich aber nicht viel verändert. Henner stolperte unter Deck, schlug sich den Schädel, klopfte an Kabinentüren, öffnete sie. Marks Schnarchen konnte ich bis in den Salon hören.
    »Simon ist weg«, sagte Henner, als er wieder neben mir Platz nahm. »Seine Kabine ist leer, aber seine Sachen sind noch da.« Er zog die Stirn kraus. »Aus meiner Brieftasche ist sämtliches Bargeld verschwunden. War nicht viel, vielleicht hundertfünfzig Euro. Ist

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