Leiden sollst du
aufreizendes Outfit aufgefallen?
Ben, was hast du getan? , fragte sich Daniel besorgt.
„Sie kokettieren mit Ihrer Querschnittslähmung“, sagte Kranich plötzlich und musterte den Bock. „Das beweist, dass Sie große Probleme haben, sich damit abzufinden, denn sonst würden Sie die Behinderung einfach ignorieren und als gegeben betrachten. Bedeutet, Sie sitzen noch nicht lange im Rollstuhl. Er mag Ihnen Sympathiepunkte einbringen. Aber was machen Sie, wenn Sie körperlich angegriffen werden?“
Langsam wurde der Typ Daniel unheimlich. Er verunsicherte ihn, und das absichtlich. Ihm kamen die Worte nur schwer über die Lippen. „Zurückschlagen, wie vorher auch.“
„Sie haben sicherlich Ihre Dienstwaffe bei sich, nicht in der Tasche mit Ihrem Dienstausweis und Ihrer Kriminalmarke, denn an der Rückenlehne ist überhaupt keine Tasche befestigt, wie Sie eben meinten“, überführte er Daniel der Lüge, hakte aber nicht nach. „Vielleicht in einem Beinhalfter?“
„Möchten Sie die Walther sehen?“ Daniels Puls beschleunigte sich. Er sollte den Mund halten und zurück zu Tomasz fahren! Stattdessen provozierte er den Bruder eines Mordopfers. Dabei durfte er nicht auffallen. Eigentlich hatte er hier nichts zu suchen! „Ich darf sie allerdings nur ziehen, wenn ich mich in einer Notsituation befinde oder jemanden stellen muss, der sich einer Verhaftung zu entziehen versucht.“
Einige Sekunden lang stand Markus Kranich vor ihm. Bewegungslos. Nicht einmal sein Brustkorb hob und senkte sich bei seinen Atemzügen. Sein Gesicht glich einer ausdruckslosen Maske. Er sah weder gelassen noch angriffslustig aus, und genau das beunruhigte Daniel.
Endlich lächelte Kranich. „Schade, ich hätte die Waffe gerne mal zu Gesicht bekommen. Sie haben meinen vollsten Respekt. Es ist sicher nicht einfach in Ihrer Situation, besonders nicht als Cop, aber Sie lassen sich nicht unterkriegen, das merkt man. Gefällt mir.“
Er zog seinen imaginären Hut vor Daniel und hielt ihm seine Ghettofaust hin, wie ein Teenager, der seine Gang begrüßte. Irritiert, da diese Geste so gar nicht zu Kranichs Auftreten passte, erwiderte Daniel den Gruß. Offenbar hatte Daniel den Test bestanden und das Übel, eine Beschwerde bei seinem Vorgesetzten, noch einmal abgewendet.
Hinter Kranich fiel ihm eine schwarze Beanie ins Auge. Die Buchstaben ACAB waren in Weiß auf die Wollmütze gestickt, was die Abkürzung von „all cops are bastards“ war. Daniel biss seine Zähne zusammen.
Kranich folgte seinem Blick. Rasch nahm er die Mütze und setzte sie auf. Jegliche Überheblichkeit wich aus seinem Gesicht. Seine Augen drückten eine tiefe Traurigkeit aus. „Die gehört mir, so etwas trägt man hier nun mal. Julia und ich haben uns dieses Zimmer geteilt, bevor ich zu meiner Freundin, jetzt Ex, zog. Aber Nadine stellte sich als genauso provinziell wie Widdersdorf heraus. Julia dagegen war mein Sonnenschein in dieser düsteren Welt.“
Daher kam wohl auch ihr inniges Verhältnis. In dieses Nest hatten sie sich bestimmt gemeinsam vor ihrem Vater, der immer unter Dampf zu stehen schien, geflüchtet. Sie hatten es bunt gestaltet, mit ihren Träumen dekoriert und sich gegenseitig in den Arm genommen, um die Trostlosigkeit dieses Blocks zu vergessen, nahm Daniel an.
„Als ich der Gegend den Rücken kehrte, ließ ich das meiste zurück.“ Er sog seine Wange ein und knabberte von innen daran, wie er es bestimmt als Junge getan hatte, schätzte Daniel, manche Verhaltensweisen legte man nie ab. „Von meinem ersten selbst verdienten Geld schenkte ich Julia einen Rechner, denn den brauchen die Kids doch heutzutage in der Schule. Die Lehrer gehen einfach davon aus, dass jedem zu Hause einen Internetzugang zur Recherche zur Verfügung steht, und erwarten die Hausaufgaben getippt und ausgedruckt. Wie sollen sich arme Familien das leisten?“ Seine Mundwinkel hingen traurig herab, doch seine geballte Faust sprach eine andere Sprache. „Julia wurde schon wegen ihrer Billigklamotten vom Discounter gehänselt.“
„Sie kauften ihr ein Smartphone.“ Daniel wollte, dass er weiterredete. Unter Umständen erfuhr er doch noch etwas Brauchbares.
„Ich verdiene als Buchprüfer gut. Einige Monate war ich arbeitslos, aber jetzt habe ich wieder eine Anstellung. Trotzdem machte der Alte damals Ärger, als er einmal mitbekam, dass ich Julia einen Schein zusteckte, das macht er sowieso immer.“ Tief atmete Kranich ein und wieder aus, wie jemand, der eine schwere
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