Leiden sollst du
Last trug. Er wischte sich mit der Mütze die feuchten Augen trocken, warf sie auf Julias Bett und starrte darauf, als hoffte er, seine Schwester würde plötzlich unter der Decke hervorkriechen. „Hab Julia zu ihrem Siebzehnten das Handy gekauft und sie schwören lassen, den beiden Alten nichts zu verraten. Sie hat dichtgehalten. Bis in den Tod.“
Das erste Mal sah Daniel den wahren Markus Kranich. Er trauerte immer noch sehr um seine jüngere Schwester. Vielleicht war sein schroffes Verhalten nur Fassade, um zu verbergen, wie verletzt er war. Genauso wie Daniel sich oft hinter Sarkasmus versteckte. Er schnalzte leise. Da hatte er doch soeben eine Gemeinsamkeit entdeckt, damit hatte er nun wirklich nicht gerechnet.
Trotzdem fragte er sich, ob Kranich die Mütze aus reiner Provokation hatte liegen lassen, immerhin hatte er gewusst, dass Polizisten kamen. Oder hatte er schlichtweg vergessen, dass sie da war?
Daniel ging darüber hinweg, kehrte zu Tomasz zurück, der resigniert den Kopf schüttelte, weil er wohl keine neuen verwertbaren Hinweise erhalten hatte, und sie verabschiedeten sich.
„Nette Typen“, sagte Tom im Aufzug auf dem Weg nach unten.
Daniel streckte sich. Dadurch, dass er gezwungen war, den ganzen Tag zu sitzen, hatte er oft Nacken- und Rückenschmerzen, besonders in letzter Zeit, da er durch seine Privatermittlungen das Muskeltraining vernachlässigte. „Ich war drauf und dran, sie zum Abendessen einzuladen. Aber Marie kann mit so viel Testosteron nicht mehr umgehen, schließlich liegt der Pegel bei uns zu Hause seit März bei null.“
„Spinner!“ Rügend gab Tom ihm einen Klaps. „Jedenfalls haben wir nichts Neues erfahren. So ein Mist! Wäre ja auch zu schön gewesen.“
Daniel war froh, dass sein Freund das Armband, auf dessen Rückseite Julia Bens Namen aufgestickt hatte, nicht gesehen hatte, denn sonst wäre der Junge erneut in den Fokus des KK 11 geraten. „Was sagt denn eure Täteranalyse?“, fragte er nicht ohne Hintergedanken.
„Männlich, intelligent, aber in einem kontrollierten Rahmen gewaltbereit, denkt, er wäre zu clever, um erwischt zu werden.“
„Weil er mit dem ersten Mord an Julia Kranich durchkam“, warf Daniel ein.
Der Lift blieb auf der sechsten Etage stehen, doch niemand stieg zu. Ungeduldig hämmerte Tomasz auf den Schalter für das Erdgeschoss. „Möglich, aber ihr Körper war nicht hergerichtet worden wie die von Schardt, Lenz und Backes. Ihre Leiche wurde auch nicht an einem Ort liegen gelassen, wo sie jemand unweigerlich finden musste.“
„Der Killer hat sich weiterentwickelt, wie üblich für Serientäter.“ Daniel bemühte sich, die zahlreichen Kaugummis, die an den Wänden klebte, zu ignorieren. Er fand das widerlich. „Er hat seine Methode eben Schritt für Schritt perfektioniert.“
„Unwahrscheinlich, denn Serienkiller bleiben meist bei einem Geschlecht. Sie springen nicht hin und her wie unserer. Außerdem wurden an keinem der erwachsenen Opfer sexuelle Handlungen durchgeführt.“
Das hatte Daniel nicht gewusst. Er hatte auf dem Präsidium nicht die Zeit gehabt, die Kriminalakten komplett durchzulesen. Der Mord an Julia hatte unter anderem einen sexuellen Auslöser gehabt, was die anale Penetration zeigte. Kaum vorzustellen, dass der Täter diesen Habitus ablegte. Wahrscheinlicher war, dass er ihn ausbaute, indem er immer größere Gegenstände nahm, brutaler zustieß oder die Erniedrigung und den Schmerz an Intimstellen womöglich sogar zu seinem zentralen Thema machte. Wieso fehlte dieses wichtige Tatmerkmal also bei den drei Erwachsenen?
Das konnte nur bedeuten, dass es sich um zwei verschiedene Täter handelte.
Im Verborgenen ballte Daniel seine Hand zur Faust, um sich nichts anmerken zu lassen. Hatte GeoGod – entweder selbst ein Gast der Vokü-Party, einer der Veranstalter oder ein Mitarbeiter der Spedition – den Mord an Julia auf dem Nachbargrundstück beobachtet und hatte dieser Zufall eine Mordgier in ihm ausgelöst, die sich immer weiter hochschraubte?
„Der Gesuchte besitzt Sozialkompetenz ...“, fuhr Tomasz fort, hörte aber sofort wieder auf mit seiner Aufzählung, da der Aufzug hielt. Er stieg als Erster aus, nur um Daniel die Haustür aufzuhalten.
Mit einem Nicken bedankte dieser sich. „Und er fällt daher nicht weiter auf. Das macht es schwierig, ihn zu entlarven. Außerdem muss er in Köln leben, das beweist sein Aktionsradius.“ Täter schlugen für gewöhnlich bei ihren ersten Taten in ihrer vertrauten
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