Leiden sollst du
gehalten, hätte er nicht einmal die gewechselt, dafür schämte er sich jetzt.
„Markus wollte schon nach zwei Monaten mit mir zusammenziehen, aber meine Eltern fanden, dass ich zu jung sei. Außerdem hatte ich gerade erst mein Mathematikstudium begonnen.“
„Mathematik?“ Das überraschte Daniel. Mit ihrer zarten Figur, der blassen Haut und dem schüchternen Lächeln wirkte sie auf ihn eher wie eine Studentin des Bibliothekarwesens. Er ertappte sich dabei, wie er sich fragte, was Kranich an ihr gefunden hatte. An der Seite von Julias Bruder hatte er sich eher eine Frau mit Profil und Format vorgestellt, jemanden, der ihn aufwertete. Immerhin hatte er dem Ghetto entkommen wollen. Nadine jedoch war eher eine stille, graue Maus – zumindest heutzutage.
Verlegen zog sie den ausgeleierten fleischfarbenen Pullover bis zu den Knien und stopfte ihr Taschentuch in die Tasche ihrer Strickjacke. „Das traut man mir nicht zu, ich weiß.“
„Ich dachte, dass eher Männer dieses Fach wählen.“
„Inzwischen gibt es auch viele Frauen.“ Sie erhob sich, holte eine Packung Tempos aus einer Schublade und setzte sich wieder. „Mit Markus hat es nicht geklappt, wie Sie ja wissen. Er wohnt seit Februar nicht mehr hier. Aber wir waren fünf Jahre zusammen, das ist doch schon etwas, oder?“
Aufmunternd nickte Daniel. Seinem Eindruck nach war sie der Typ, der unsicher war und viel Zuspruch brauchte.
„Markus wollte wirklich gerne mit mir zusammenleben, er konnte es kaum abwarten. Deshalb schlossen wir einen Kompromiss und bezogen die Einliegerwohnung.“ Auch jetzt merkte man ihr noch an, dass sie sich geschmeichelt gefühlt hatte, von einem Mann, der bereits sein eigenes Geld verdiente und erfahrener war als ihre Freunde, umschwärmt worden zu sein. Aber der traurige Unterton entging Daniel nicht. „Vorher war sie an einen Referendar vermietet gewesen, aber er ging nach Frankfurt, weil dort eine Lehrerstelle frei wurde. Als Markus das mitbekam, war er Feuer und Flamme gewesen und steckte mich an. Selbst meine Eltern waren damit einverstanden. Auf ihre Meinung lege ich großen Wert.“
Etwas brachte Daniel ins Grübeln. Er hätte gedacht, dass Markus dem Elend daheim so schnell wie möglich, also mit achtzehn Jahren, den Rücken gekehrt hatte, aber er war erst mit vierundzwanzig Jahren ausgezogen. Warum nicht schon früher? Lag es allein am Geld?
„Aber sind Sie nicht eigentlich wegen Julia gekommen?“, fragte sie und fasste sich an die Stirn, als prüfte sie, ob sie Fieber hatte. „Er hat gelitten wie ein Hund, als sie verschwand und auch als sie ... wieder auftauchte.“
Man mag von Markus Kranich halten, was man will, dachte Daniel, aber er hat ein Herz. Wahrscheinlich hatte er in seiner Jugend gelernt, seine weiche Seite zu verbergen, vor seinem Vater und vor dem rauen Klima im Ghetto. „Hat Julia sie beide oft besucht?“
„Nur drei oder vier Mal in all der Zeit. Aber Markus hat sie oft in der Innenstadt getroffen, hat ihr Kleidung gekauft oder sie zum Pizzaessen eingeladen. Ihre Eltern konnten sich solche Extraausgaben nicht leisten.“ Nadine nahm einen kleinen Korb mit Stiften, Feuerzeugen, Teelichtern und anderem Krimskram vom Beistelltisch neben der Couch, kramte darin herum und entnahm ihm eine Tube Creme. Ein wenig gab sie davon auf die geröteten Stellen unterhalb ihrer Nase und verteilte sie. Aber sie hatte zu viel genommen, sodass eine glänzende weiße Schicht, die nicht einzog, auf ihrer Haut zurückblieb.
Während er ihre fahrigen Bewegungen verwundert beobachtete, fragte er sich, warum Markus seine Freundin zu den Treffen nicht mitgenommen hatte. „Wissen Sie, ob Julia einen Freund hatte?“ Ben oder einen Fremden, der sie aus Eifersucht getötet hatte.
„Da war jemand, für den sie schwärmte, denn Markus riet ihr mal am Telefon, sie sollte den Jungen nicht mit zu sich nach Hause nehmen, weil ihr Vater sonst einen Anfall bekäme. Horst Kranich ist recht ...“ Etwas übereilt nahm sie ein Taschentuch und tupfte damit die überschüssige Creme ab.
Daniel setzte sich aufrechter hin. „Was meinen Sie?“
„Eigentlich rede ich nicht schlecht über Menschen.“ Sie prüfte, ob ihr Zopf noch ordentlich geflochten war, spähte aus dem Fenster und, da Daniel nicht aufgab und sie weiterhin wartend ansah, schlang die Arme um sich, als müsste sie sich selbst festhalten oder trösten. „Er ist aufbrausend. Ich war mit Markus nur ein einziges Mal bei ihm und glaubte, die ganze Zeit auf einem
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