Leiden sollst du
Ablage, bis er die Flasche ausgemacht hatte, die er dazwischen abgestellt hatte. „Nicht einmal Brennspiritus hat geholfen. Die Scheißverpackung der Pillen ist unkaputtbar.“
Marie fragte sich, wie viel er schon getrunken hatte, wenn er bereits Sehstörungen hatte. Einen Moment lang war sie glatt ein wenig froh, dass er den Wodka festhielt, womöglich hätte er ihn sonst in seinem Suff mit dem Ethanol verwechselt und versehentlich getrunken. Vielleicht spürte er nicht einmal mehr den Unterschied. Sie griff besorgt nach der Glasflasche.
„He!“ Wütend entriss Benjamin sie ihr wieder. Er nahm einige Schlucke und verzog keine Miene, als würde es sich um Wasser handeln. „Ich mache, was ich will. Bin achtzehn.“
„Auf dem Papier ja. Aber in Wahrheit bist du ein kleiner bockiger Junge, der probiert, seinen Schmerz in Alkohol zu ertränken. Aber das funktioniert nicht. Nach dem Kater sind die alten Probleme wieder da.“
Als sie erneut nach dem Wodka langte, hielt er ihn am gestreckten Arm hoch, denn, da sie einen Kopf kleiner war als er, kam sie nicht heran. „Du hast nicht mitgemacht, was ich mitmache.“
Das stimmt, hätte Daniel ihm geantwortet, aber ich bin durch andere Scheiße gewatet. Wie gerne hätte Marie ihn hier gehabt! Sie brauchte ihn. Was wusste sie schon davon, wie man mit einem Teenager umging, der nicht nur in der Pubertät steckte, sondern auch noch alle Menschen verloren hatte, die ihm nahestanden: Julia, Denis, Maik, und nun hatten auch noch seine Eltern keine Zeit mehr für ihn, weil sie das Kitten ihrer Ehe auf Platz eins ihrer Prioritätenliste gesetzt hatten.
„Du hast nicht gesehen, was ich gesehen habe.“ Plötzlich weinte er hemmungslos. Zwischen herzzerreißenden Schluchzern kippte er Wodka in sich hinein. Wollte er sich damit etwa ersäufen? Überhastet stellte er die Flasche auf den Badezimmerschrank, offensichtlich damit Marie nicht herankam, und erbrach sich in die Toilettenschüssel.
Nachdem er sich gewaschen hatte, hingen seine Mundwinkel schlaff herab, als würde er die Kontrolle über seine Gesichtszüge verlieren.
Marie machte sich große Sorgen um ihn. Er war unten, tief unten, und sie war sich nicht sicher, ob sie es schaffen konnte, ihn alleine aus diesem Loch wieder herauszuholen.
Die Luft im Badezimmer stank säuerlich. Angewidert kippte Marie das Fenster.
Als sie sich wieder zu ihm herumdrehte, holte er gerade ein Foto aus der Tasche seines Kapuzenpullovers. Er warf es ins Becken, goss etwas von dem Spiritus darauf, den Marie für das Fondue-Rechaud gekauft hatte, und wollte es anzünden.
Gerade noch rechtzeitig nahm sie ihm das Feuerzeug ab. Die Aufnahme war die gleiche, wie Marie sie in Maiks Jugendzimmer gesehen hatte. Sie zeigte die drei ehemals besten Freunde und ihre Hausratten – das Rat Pack. „Hast du harte Drogen genommen?“
„Bist du crazy?“ Er zerriss den Schnappschuss und spülte die Schnipsel im WC runter.
Langsam reichte es Marie. „Sprich vernünftig mit mir!“
Sichtlich beeindruckt über ihr ungewohntes Auftreten schwieg er.
Marie war selbst erstaunt über den bestimmten Ton und ihre aufrechte, selbstbewusste Haltung. Normalerweise bemühte sie sich um Harmonie, erhob ihre Stimme nicht, sondern bemühte sich, den Ball flach zu halten, und suchte eine Aussprache. Doch mit dieser Methode kam sie hier und jetzt nicht weit. Außerdem hatte sie keine Lust mehr darauf, die nette, wohlerzogene und rücksichtsvolle Marie Zucker, geborene Bast, zu sein. Das hatte sie bei ihrer Mutter nicht weitergebracht und bei Daniel auch nicht. Es war Zeit, Tacheles zu reden!
„Ich hab keinen Stoff genommen“, sagte er kleinlaut. „Nur meine russische Medizin des Vergessens.“
„Und was ist mit dem Spice, dem Ecstasy und was du sonst noch verbrannt hast?“
Er zog den Kopf zwischen seine Schultern. „Hab’s in meiner Schultasche gefunden.“
„Einfach so. Rein zufällig.“
„Einige Blunts steckten zwischen meinen neuen Klamotten.“ Er zeigte auf die Wand, als wäre sie aus Glas und sie könnten bis in sein Zimmer schauen. „In meiner Kommode.“
„Hier in der Wohnung?“, fragte sie. Wenn Daniel wüsste, dass Benjamin Rauschmittel mitgebracht hatte, würde er ihn einen Kopf kürzer machen.
Hart klopfte er gegen seinen Brustkorb, schien es aber nicht zu spüren. „Sie waren nicht von mir. Meine sind in der alten Wohnung verbrannt.“
Freudlos lachte Marie.
„Ich kiffe nicht mehr. Will nicht mehr. Das Zeug ist Dreck!“ Er
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