Leidenschaft in Rot
sie emotional labil. Sie wollte sich zerstören. Die Schockbehandlung und die Krämpfe haben das für sie erledigt. Ihre Persönlichkeit ist zerstört. Wo soll sie hin? Jetzt kann man nicht mehr viel für sie tun. Hier ist es so gut wie anderswo. Manchmal ist sie richtig süß.«
»Ich möchte sie nicht aufregen.«
»Was willst du sie fragen?«
»Ob sie sich an ein paar Namen erinnern kann. Ob sie sich an ein paar Fotos erinnern kann.«
»Fotos?«
Ich öffnete den Umschlag, nahm zwei davon heraus und reichte sie ihm. Sein Gesicht zuckte besorgt und bekümmert.
»Die arme Kleine. Siehst du, was sie eigentlich sagt? Liebt mich, liebt mich. Ablehnung durch den Vater, Ablehnung durch den jungen Ehemann, eine verpfuschte Abtreibung, ein Jahr in der Anstalt, als sie siebzehn war, Knall auf Fall.«
»Was würde es mit ihr machen, wenn ich ihr diese Bilder zeige?«
»Trav, inzwischen kann ihr nichts mehr helfen oder schaden.«
»Wird sie mit mir reden?«
»In dieser Phase des Zyklus ist sie sehr überschwenglich. Vielleicht regt sie sich auf. Vielleicht findet sie es lustig. Ich weiß nicht. Es könnte die Phase beschleunigen. Ich glaube nicht, daß es irgendwelchen Schaden anrichtet.«
»Solltest du dabeisein?«
»Ich glaube, du bekommst mehr aus ihr raus, wenn du allein bist. Bei zwei oder mehr Leuten spielt sie vielleicht den Clown. Sie reagiert zu stark. Sie spricht besser nur mit einem. Mein Gott, Junge, sind das vielleicht Fotos! Vor eineinhalb Jahren? Ich schätze, es ging ihr nicht gut damals, aber um das zu sehen, muß man ausgebildet sein. Jetzt sieht es jeder.«
»Wie verhält man sich am besten ihr gegenüber, Stan?«
»Ganz natürlich, freundlich. Wenn sie Unsinn redet, lenk sie einfach wieder auf das zurück, was du hören willst. Vermeide schockierte Blicke, und lach nicht. Wir sind hier an Nancy gewöhnt, und jeder Säufer auf der Welt hat schon alles gehört, was es zu hören gibt. Behandle sie, als wäre sie ... ein kluges, süßes, phantasievolles Kind.«
»Wo ist sie?«
Er führte mich zum Büro und zeigte mit dem Finger. »Geh um den Speisesaal rum, dahinter fängt der Pfad zum Strand an. Ich habe gesehen, wie sie vor ungefähr zwanzig Minuten in die Richtung gegangen ist.«
Ich hörte sie, bevor ich sie sah. Es war ein schmales Stück Strand, mehr Muschelschalen als Sand. Es war eine wunderschöne Altstimme, sehr kräftig und voll, die voller Inbrunst einen Werbesong für Zigaretten mit Filter, viel Geschmack und Hardbox sang. Sie saß auf einem Palmenstamm, etwa dreißig Meter von der Stelle, wo der Pfad auf den hellen Strand traf. Als ich auf sie zuging, hörte sie das Knirschen meiner Schritte auf den Muschelschalen, hörte auf zu singen, drehte sich um und starrte mich an. Dann stand sie auf und kam mir mit einem warmen, lieben Lächeln entgegen. Die weißen Zähne strahlten in dem sonnengebräunten Gesicht. » Hallo Sie!« sagte sie. »Ich bin Nancy. Sind Sie einer von den Neuen?«
Sie trug hellblaue Bermudashorts und ein weißes Herrenhemd, dessen Zipfel sie um die Hüfte geknotet hatte. Ihr Haar war zu Zöpfen geflochten. Sie war groß und schlank, und ihre Augen waren von einem dunklen, klaren Blau. Nach einer Weile wurde mir klar, daß sie mich an die Jane aus den ganz frühen Tarzanfilmen erinnerte. Sie ging barfuß, ohne auf die Muscheln zu achten.
»Ich bin nur zu Besuch. Ich heiße Trav.«
»Besuchen Sie Jackie? Sie kotzt nicht mehr so viel. Vielleicht darf sie nach Hause. Nur auf Besuch.«
»Ehrlich gesagt, wollte ich Sie besuchen.«
Aus ihrem Gesicht schwanden alle Wärme und Heiterkeit. »Er schickt immer nur Leute. Sagen Sie ihm, ich geb ’n Scheiß drauf. Jetzt. Und für immer. Er kann mich mal. Sagen Sie ihm das.«
»Niemand hat mich geschickt. Ich kenne nur ein paar Leute, die Sie auch kennen. Ich bin hier vorbeigekommen und dachte, ich schau kurz vorbei. Das ist alles, Nancy.«
»Was für Leute?«
»Carl Abelle, Vance und Patty M’Gruder.«
Schmollend wandte sie sich ab und ging zurück zu ihrem Stamm. Ich folgte ihr und blieb in ihrer Nähe stehen. Sie blinzelte zu mir hoch. »Ich kenne diesen Carl. Kräftiger Rücken und schwacher Verstand. Er hatte so eine dumme Idee. Den perfekten Orgasmus. Können Sie sich das vorstellen? Vielleicht dachte er, das macht mich an. Verdammter Feigling. Traute sich nicht mal, Feuer in der Skihütte zu machen. Mein Gott, war das kalt da drin, ganz oben auf dem Paß. Und Tantchen dachte, ich bin den ganzen Tag auf der
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