Leidenstour: Tannenbergs neunter Fall
seichten Wasser des Sees herumgeplanscht hatte.
Eine immens wichtige Rolle bei der psychischen Genesung der kleinen Emma hatte von Anfang an Kurt gespielt. In den ersten Tagen nach ihrer Befreiung war er das einzige Lebewesen, auf das Emma reagierte. Menschen gegenüber verhielt sie sich zunächst sehr reserviert. Aber dem gutmütigen und verschmusten Familienhund war es im Laufe der Zeit gelungen, das unbekümmerte Lächeln auf ihr Gesicht zurückzuzaubern.
Als Marieke und Emma nach ihrem Toilettenbesuch in den Innenhof zurückkehrten, saß Jacob bereits wieder am Tisch und schmökerte in seiner Bildzeitung. Ihm gegenüber schmachtete Wolfram Tannenberg gerade seine Herzdame an. Alle in der Familie waren überaus glücklich darüber, dass er nach den langen Jahren, in denen er am Verlust seiner geliebten Ehefrau Lea herumgeknabbert hatte, endlich wieder eine adäquate Partnerin gefunden hatte.
Seitdem er Hanne begegnet war, hatte sich sein Wesen ausgesprochen positiv verändert. Er war bei Weitem nicht mehr so mürrisch und in sich gekehrt, wie während des langjährigen Martyriums der selbst gewählten Einsamkeit. Mit Johanna von Hoheneck war die Freude am Leben zurückgekehrt.
Als Marieke die beiden Turteltauben beobachtete, fiel ihr ein, dass sie vor Kurzem durch Zufall mit angehört hatte, wie sich die beiden über gemeinsame Kinder unterhielten. Ihr amüsierter Blick schwebte hinüber zur Gartenmauer, wo ihre Tochter mit einem bärenartigen Wesen kuschelte.
Ein kleines Brüderchen oder Schwesterchen für Emma wäre auch nicht schlecht, dachte sie. Wenn Hanne und ich gleichzeitig ein Kind bekämen … Welches Verwandtschaftsverhältnis hätten die beiden Babys zueinander? Ich bin Wolfs Nichte, sein Kind wäre mein … Sie blies die Backen auf und schüttelte den Kopf. Das ist mir zu kompliziert. Feine Lachgrübchen zeigten sich auf ihren Wangen. Na, ist ja auch egal – lustig wär’s auf alle Fälle.
Als Florian Scheuermann blinzelnd die Augen öffnete, glaubte er, im Himmel zu sein. Ein strahlendes Engelsgesicht lächelte ihn an. Das schwarze Haar des Himmelsboten wurde von einem leuchtenden, azurblauen Passepartout umrahmt. Die Haarspitzen glitzerten so, als seien sie aus purem Gold.
»Du bist so traumhaft schön«, wisperte er glückstrunken.
Der wundersame Engel streichelte zärtlich über seine Wangen.
»Hmh«, brummte Florian selig.
»Da hast du aber noch mal großes Glück gehabt, du Süßholzraspler«, hauchte ein süßes Stimmchen. »Eine Minute später und du wärst ertrunken.«
Florian kam schlagartig zur Besinnung. Er wurde von einem Hustenanfall übermannt, würgte, japste und zog wie ein Asthmatiker nach Luft.
»Trink einen Schluck«, sagte Pieter, einer der Turbofood-Mechaniker, und reichte ihm eine Trinkflasche.
Der junge Radprofi gehorchte. »Was ist passiert?«, keuchte er.
Jenny tupfte ihm mit einem weichen Handtuch die Nässe aus dem Gesicht. Mit der anderen Hand wies sie hinauf zur Straße, wo mehrere seiner Mannschaftskameraden zu ihm herunterblickten.
»Du hast offenbar die Kurve unterschätzt und bist über die Leitplanke drüber, den Abhang hinunter und in den Bach gestürzt«, erklärte sie.
»Dein schönes Rad ist total hin«, bemerkte Pieter mit holländischem Akzent und nickte hinüber auf die andere Seite des Wellbachs, wo eine völlig demolierte Rennmaschine zwischen den Sandsteinfelsen lag.
Plötzlich erinnerte sich Florian an den Stoß, den er unmittelbar vor seinem Sturz gespürt hatte. »Aber da war doch …« Den Rest verschluckte er. In seinem Hirn hüpften die Gedanken wie wild gewordene Flipperkugeln durcheinander. Um ein wenig Zeit zu gewinnen, hüstelte er hinter vorgehaltener Hand.
Das kann ich jetzt wirklich nicht bringen, pochte es unter seiner Schädeldecke. Ich kann doch nicht allen Ernstes einem Kollegen unterstellen, dass er mich absichtlich über die Leitplanke geschubst hat. Vielleicht war alles ja nur ein Unfall, weil die Fahrer hinter mir nicht mehr rechtzeitig ausweichen konnten. Oder ich bilde mir diese Berührung nur ein. Nein, ich kann mir so etwas nicht erlauben! Ruckzuck bin ich weg vom Fenster und hätte dadurch leichtfertig die Chance meines Lebens verspielt.
»Was war da?«, wollte Jenny wissen.
»Ach, nichts«, wiegelte Florian Scheuermann ab. Er fuhr sich mit der Hand an die Stirn und tastete von dort aus vorsichtig seinen Kopf ab.
»Suchst du etwa deinen Schutzengel?«, fragte Pieter.
Florian bedachte ihn mit einem
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