Leipziger Affären - Kriminalroman
auch jetzt wieder sein Gehirn als Erstes die praktischen und finanziellen Aspekte durch. Wie eine Maschine.
»Wir waren uns einig«, sagte er. Wenn überhaupt, so sollten Kinder anders geplant werden.
Aber vielleicht war es gerade das. Er wünschte sich kein Kind, er brauchte es nicht. Er vermisste nichts in seinem Leben. Bislang war es bei Erika ebenso gewesen. Warum also jetzt etwas ändern?
Als hätte Erika seine Gedanken geahnt, sagte sie: »Ich bin noch jung genug. Mein Frauenarzt meint, es wäre nicht einmal eine Risikoschwangerschaft.«
»Du hast mit ihm darüber gesprochen?«
»Warum nicht?«
»Wenn dir der Herr Doktor zu einem Kind rät, dann lass es dir doch von ihm einpflanzen.« Abrupt stieß Henne den Stuhl nach hinten und stampfte ins Bad. So schnell seine Wut gekommen war, war sie wieder verraucht. Er sah sich im Spiegel und streckte sich die Zunge heraus.
Was war bloß in ihn gefahren? Erika wollte ein Baby, er nicht. Eine Meinungsverschiedenheit, die geregelt werden konnte. Kein Grund, sich derart aufzuregen.
Miriam fiel ihm ein. Er musterte sein Spiegelbild, sah die Narbe, die Falten. Sein Blick blieb an seinen Augen hängen, bohrte sich in die Pupillen, die ihm übergroß erschienen, und plötzlich wurde ihm klar, was mit ihm los war.
Er hatte Schiss. Riesige, nackte Angst. Sie hockte tief in ihm drin und wartete bloß darauf, dass sie herausgelassen wurde. Aber warum?
Wieder dachte er an Miriam, und auf einmal wusste er die Antwort. Solange er eine andere Frau begehrte, konnte er kein guter Vater sein. Er würde ständig hin- und hergerissen werden. Miriam auf der einen Seite, Erika und das Baby auf der anderen. Irgendwann würde er die Konsequenzen ziehen und sich für ein Leben ohne Kind entscheiden. Aber Henne war selbst ohne Vater aufgewachsen. Er wusste, was das für das Kleine bedeutete.
Es gab nur eine Lösung, er musste Miriam vergessen. Dabei hatte es mit ihnen kaum begonnen. Die Trauer, die ihn erfasste, verwirrte ihn. Miriam hatte sich tiefer als gedacht in sein Herz geschlichen. Er spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und trank wie ein Verdurstender. Aus dem Wasser konnte er das Salz seiner Tränen schmecken.
Als er sich abtrocknete, sah er im Spiegel Erika hinter sich stehen. Er drehte sich um und schloss sie in die Arme.
»Vergib mir«, flüsterte er. »Ich bin ein Trottel.«
»Das bist du nicht, du bist etwas ganz anderes, nämlich nicht ehrlich. Sag mir endlich die Wahrheit.«
Erstaunt schaute er sie an. »Was meinst du?«
»Tu doch nicht so! Ich kenne dich viel zu gut. Du verstellst dich.«
»Quatsch! Komm her!« Er nahm sie auf den Arm und trug sie ins Wohnzimmer, wo er sich auf das Sofa fallen ließ.
Sie verbarg ihr Gesicht an seinem Hals und schluchzte hemmungslos. »Du liebst mich nicht mehr.«
Er drückte sie fest an sich. Wie eine Woge hüllte ihn die vertraute Zärtlichkeit ein. Tröstend streichelte er ihr Haar. Wie hatte er bloß annehmen können, er würde Miriam lieben? Er liebte seine Frau, keine andere. Behutsam tupfte er Erika die Tränen ab.
Sie nahm ihm das Taschentuch aus der Hand und schnäuzte sich. Auch das liebte er an ihr, ihre praktische Seite hatte schon manche Situation gerettet.
Sie lächelte, obgleich er sah, dass es sie Mühe kostete. Noch immer stand Wasser in ihren Augen. »Küss mich.«
Er küsste sie, als könne er damit alles vergessen und wusste im selben Augenblick, er machte sich etwas vor.
FÜNF
Der Samstag war unverschämt hell und freundlich. Kein Wölkchen trübte den Himmel, der an Postkartenidylle aus fernen Urlaubsländern erinnerte. An einem solchen Tag sollte es keine Beerdigung geben.
Henne schritt den frisch geharkten Hauptweg des Connewitzer Friedhofes entlang.
Er war zu zeitig. Der Platz vor der Trauerhalle war leer. Ungeduldig tigerte er auf und ab. Fünfundzwanzig Schritte nach links, fünfundzwanzig nach rechts, entlang der Mauer bis zu der kleinen Pforte, die zur angrenzenden Gärtnerei führte, und wieder zurück.
Vor einem Blumenstand, an dem Blühpflanzen und Grabschmuck angeboten wurden, blieb er stehen und überflog die Auslagen. Die Verkäuferin band ein Gesteck und blickte wortlos auf. Er nickte ihr grüßend zu. Sie war jung und hübsch, ihre blonden Zöpfe wippten bei jeder Bewegung. Ein Fremdkörper an diesem Ort, an dem die Toten herrschten, denen König in Kürze Gesellschaft leisten würde.
Die Trauerhalle öffnete sich, und der Pfarrer trat heraus, gefolgt von den Sargträgern nebst
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