Leise Kommt Der Tod
hinten gestrichen. Ihre großen, dunklen Augen blickten nicht direkt in die Kamera. Harriet hatte Recht gehabt: Karen Philips war tot.
Nach ein paar Telefonaten mit dem Absolventenbüro, wo die Laufbahnen der Studenten dokumentiert wurden, war Sweeney etwas schlauer. Karen Philips hatte sich 1977 an der Universität eingeschrieben. Sie stammte aus Greenfield, hatte dort ihren Abschluss an der staatlichen Highschool gemacht und als Hauptfach Kunstgeschichte angegeben. Damals war sie Praktikantin im Hapner Museum und reiste im Sommer vor ihrem Abschlussjahr mit einer Gruppe Museumsangestellter nach Ägypten. Im März darauf wurde sie tot aufgefunden, sie hatte sich mit einen Gürtel an der Decke ihres Einzelzimmers im Wohnheim aufgehängt. So weit die Fakten ihrer Universitätslaufbahn. Außerdem war Karen eine Stipendiatin gewesen.
Sweeney selbst war in ihren ersten Semestern ebenfalls Stipendiatin gewesen. Die dazu auserwählten Studierenden, in der Regel kunstgeschichtlich interessierte, erhielten Zuschüsse, um studienrelevante Reisen unternehmen zu können.
Abgesehen von den Jahrbucheinträgen gab es nicht viele Informationen über Karen Philips. Selbstmorde waren nichts Ungewöhnliches an Schulen und Universitäten, wo oft Leistungsdruck
und Konkurrenz den Studenten das Leben schwer machten. Die Sekretärin, die Sweeney Karens Laufbahn am Telefon vorgelesen hatte, fügte hinzu, dass die Polizei sich damals, sofern sie sich recht erinnerte, mit der Todesursache Selbstmord zufriedengegeben hatte. Sweeney hörte die Ungeduld, die in ihrer Stimme mitschwang, und wusste, dass sie von ihr nicht mehr als das erfahren würde.
Sie beschloss, sich wieder mit anderen Dingen zu beschäftigen, und widmete sich den Rest des Tages ihrer Ausstellung. Mit deren Entwicklung war sie mittlerweile sehr zufrieden, und je länger sie darüber nachdachte, desto überzeugter war sie, dass es ihr gelingen würde, den Besuchern die richtige Botschaft zu vermitteln. Sie wollte zeigen, wie sich die verschiedenen Kulturen im Laufe der Jahrhunderte mit dem Begriff Sterblichkeit auseinandergesetzt hatten und welchen Beitrag die Kunst geleistet hatte. Mithilfe der Kunst wurde die Vorstellung von Unsterblichkeit veranschaulicht: sei es durch Grabbeigaben, die ihre Toten ins Jenseits begleiten sollten, oder durch Gegenstände, die im Hier und Jetzt an die Verstorbenen erinnerten.
Die Grabkunst faszinierte Sweeney so sehr, da sie sich an der Grenze zwischen Form und Funktion befand. Grabsteine zum Beispiel erfüllten zum einen den Zweck, die Ruhestätte des Toten zu markieren. Darüber hinaus boten sie aber auch für den Steinmetz die Möglichkeit, seine persönliche Vorstellung über Tod und Sterblichkeit auszudrücken. Die alten Ägypter hatten es für notwendig befunden, ihre Könige zusammen mit all jenen Dingen zu begraben, die sie im Jenseits benötigen würden. Zu diesem Zweck waren Gebrauchsgegenstände in Schmuckstücke verwandelt und mit Blattgold, Karneol, Farbe und Perlen verziert worden.
Sweeneys Ausstellung würde mit Artefakten aus dem alten Ägypten beginnen. Sie sollten dem Besucher vor Augen führen, wie wohl durchdacht die Vorbereitungen auf den Tod gewesen
waren. Neben der Präsentation eines Sarkophages aus dem Bestand des Museums informierte Sweeney in Schaukästen über den Prozess des Mumifizierens einer Leiche. Außerdem konnte man eine Variation von Kanopenkrügen und -vasen begutachten, die zur Aufbewahrung der inneren Organe der Toten vorgesehen waren.
Als Nächstes widmete sich die Ausstellung verschiedenen Grabmarkierungen, wobei Fotos der ersten Steindolmen gezeigt wurden. Dann leitete sie über zu den amerikanischen Grabsteinen, die Sweeneys Spezialgebiet darstellten. Die Exponate umfassten Bleistiftpausen, Fotografien und Güsse aus der Frühzeit der amerikanischen Kolonien.
Als Nächstes kamen die Post-mortem-Fotografien sowie Trauergegenstände aus der Epoche der todesbesessenen Viktorianer. Sweeney zeigte einen ganzen Schaukasten voller Haarspangen, die während der Trauerperiode getragen wurden. Während sie die filigranen Schmuckstücke auf dem grünen Samt betrachtete, musste sie an ihren Studenten und Freund Brad Putnam denken. Er war ermordet worden, und sie wurde damals - aufgrund einer Verbindung zu einer Sammlung von Trauerschmuck - in die Ermittlungen verwickelt. In diesem Zusammenhang hatte sie Quinn kennen gelernt. Als sie über Brads sinnlosen Tod nachgrübelte, überkam sie mit einem Mal eine
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