Leise Kommt Der Tod
große Traurigkeit.
Der letzte Raum der Ausstellung widmete sich zeitgenössischer Grabkunst im weitesten Sinn. Seit kurzem interessierte sich Sweeney auch für spontane, unkonventionelle Trauersymbole wie aufgehäufte Blumen oder Teddybären, Flaschen mit Alkoholika und Kerzen, die an Autounfallstellen oder Mordschauplätzen zu finden waren. Die Stücke für diesen letzten Bereich ihrer Ausstellung musste sie noch vervollkommnen. Sie hoffte darauf, einige aktuelle Varianten von Trauerschmuck hinzufügen zu können, von denen sie erst kürzlich gehört hatte: Plastikgefäße zur Aufbewahrung von Asche etwa
oder sogenannte Traueraufkleber. Dabei handelte es sich um Klebebilder mit dem Gesicht der Toten, die meist Teenager auf ihren Autos anbrachten, um Freunden zu gedenken, die Opfer krimineller Gewalt geworden waren oder Selbstmord begangen hatten.
Für heute war sie fertig mit ihrer Arbeit, aber sie wollte noch nicht nach Hause, deshalb machte Sweeney sich erneut auf den Weg zur Bibliothek, um mehr über Karen Philips herauszufinden. Sie ließ ihre Sachen im Museum zurück und spazierte durch die Schwüle des Spätnachmittags. Seit drei Wochen hielt diese Hitzewelle nun schon an, die Stadt dampfte förmlich. Sweeney konnte den hohen Temperaturen nicht viel abgewinnen, deshalb dachte sie lieber an die kommende Wetterphase. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie sich über die ersten Schneestürme beklagen würde.
In der Bibliothek wurden sämtliche Ausgaben der von Studenten herausgegebenen wöchentlich erscheinenden Campuszeitung aufbewahrt, die Exemplare gingen bis in die dreißiger und vierziger Jahre zurück. Sweeney erhoffte sich, in den Archiven weitere Details über Karen Philips’ Tod zu finden. Sie wusste, dass die Universität ungern Informationen herausrückte, die ein schlechtes Licht auf sie werfen könnten, so wie der Selbstmord einer Studentin. Die Journalisten der Universitätszeitung dagegen hatten vermutlich Karens Freunde und Kommilitonen interviewt.
Sie fand alle vier Ausgaben aus dem März 1980, eine davon brachte die Selbstmord-Story auf der ersten Seite. Gefunden worden war Karen von einer Freundin namens Deirdre Holt, die sie zum Mittagessen hatte abholen wollen. Als auf ihr Klopfen niemand reagierte, war Deirdre durch die unverschlossene Tür ins Zimmer getreten, um dort auf Karen zu warten. Sie hatte die tote Freundin entdeckt und die Polizei von Cambridge gerufen. Die offizielle Version lautete: Selbstmord durch Erhängen in der vorangegangenen Nacht.
Karen Philips war eine Kunstgeschichtsstudentin mit Spezialgebiet Ägyptologie gewesen, erläuterte der Artikel, sie hatte während ihres zweiten und dritten Studienjahres im Hapner Museum als Praktikantin gearbeitet.
Sweeney las begierig weiter. Einige Freunde und Kolleginnen der Organisation »Vereinigung für Frauenkunst«, in der sie offenbar Mitglied gewesen war, hatten wohlwollend über Karen gesprochen. Soweit Sweeney bekannt war, existierte die Gruppierung nicht mehr, aber laut Artikel hatte es zu jenen Zeiten ein monatlich erscheinendes Magazin zum Thema Frauenkunst gegeben. Karen war eine der Verlegerinnen gewesen. Sweeney blieb an dem Zitat einer anderen Verlegerin der Zeitschrift hängen, es handelte sich um eine Frau mit dem außergewöhnlichen und klangvollen Namen Sharonna McClure. »Niemandem ist wirklich bewusst, welch großem Druck Frauen an dieser Institution ausgesetzt sind«, hatte sie in den Raum geworfen, gefolgt von: »Karen war das Opfer eines korrupten und ungerechten Systems.«
Abgesehen von dieser Aussage wurde nicht viel Neues berichtet. Karens Eltern kamen aus Greenfield angereist, um ihre Leiche zu überführen; die Trauerfeier sollte eine Woche später in ihrer Heimatstadt abgehalten werden. Außerdem gab es die unvermeidlichen Aussagen über den enormen Druck an den Universitäten und die negativen Auswirkungen des Alleinlebens, dazu waren Adressen und Telefonnummern von Beratungsstellen aufgelistet, an die sich Studenten in ähnlicher Lage wenden konnten.
Sweeney notierte sich sämtliche Namen, die in dem Artikel vorkamen. Sie wollte die Sammelmappe mit den 1980er-Zeitungsausgaben gerade wieder zusammenklappen, da fiel ihr Blick auf eine Schlagzeile in der Novemberausgabe vor Karens Tod. »Kunstdiebstahl im Universitätsmuseum.«
Sweeney las den zugehörigen Artikel. »Unbekannte Diebe haben mit großer Dreistigkeit am helllichten Tag wertvolle
ägyptische Antiquitäten aus dem Hapner Museum
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