Leise Kommt Der Tod
ihnen über die Ziele ihrer Organisation sprach, musste Sweeney unwillkürlich daran denken, wie es damals für sie gewesen war, neu an die Universität zu kommen. Sie war in banger Erwartung, was wohl auf sie zukommen würde, und mit ihren sechzehn Jahren war sie jünger gewesen als alle anderen. Sie hatte gelernt, wie man am effektivsten studierte, seine Zeit einteilte und eine gute Arbeit schrieb, aber es war vollkommen neu für sie, mit der seltsamen Geschlechterpolitik auf dem Campus zurecht zu kommen. In ihrem ersten Semester hatte Sweeney eine kontroverse Diskussion über Vergewaltigung durch Freunde oder Bekannte mitbekommen. Frauen auf dem Campus sprachen darüber, wie Männer sie dazu gedrängt hatten, weiterzugehen, als sie wollten. Viele von Sweeneys männlichen Freunden - auch Toby - hatten ihr anvertraut, dass sie keine Frau mehr bedenkenlos küssten, aus Angst, man würde sie danach als Vergewaltiger hinstellen. Einige Colleges hatten die Studenten sogar dazu angehalten, Verträge zu unterzeichnen, ehe sie sich auf körperlichen Kontakt einließen.
Sweeney erinnerte sich an einen Vorfall, als sie eines Nachts auf einer Party in jemandes Studentenbude außerhalb des Campus gewesen war und zu tief ins Glas geschaut hatte. Sie war auf dem Sofa eingeschlafen und in einem ihr unbekannten Schlafzimmer aufgewacht. Ein ihr flüchtig bekannter Kommilitone aus der Englischvorlesung war gerade dabei, ihr die Kleider auszuziehen. Sie hatte sich aufgesetzt und ihn weggestoßen. Zum Glück schlich er sich daraufhin beschämt davon. Aber sie hatte ihm nachgerufen: »Was sollte das bitte werden?« Nach diesem Vorfall kamen jedes Mal Scham- und Schuldgefühle in ihr hoch, wenn sie ihm auf dem Campus begegnete, als ob sie es gewesen wäre, die versucht hätte, ihn zu verführen.
Sie hoffte, dass sich die Dinge inzwischen geändert hatten für diese Frauen mit ihrem sonnengebleichten Haar und ihren hoffnungsvollen Gesichtern.
Sie hatte Jeanne darum gebeten, sie Susan Esterhaus vorzustellen. Als Jeanne sie zu sich rief, erkannte Sweeney, dass Susan die Rednerin von vorhin war. Sie hatte langes, graues Haar, das sich nach Hippiemanier wild lockte, aber sie trug einen Hosenanzug von Armani und Ohrstecker mit Diamanten, die so groß wie Sweeneys Daumennägel waren.
Die Edelsteine funkelten im Sonnenlicht. »Ich freue mich, Sie kennen zu lernen. Jeanne hat mir erzählen, dass Sie die neue Beraterin der Fakultät sind.«
»Nun, das ist noch nicht sicher. Ich muss erst sehen, ob ich wirklich genügend Zeit dafür habe.«
»Jedenfalls ist es eine wunderbare Gruppe junger Frauen. Sehr inspirierend.«
»Ja, sie scheinen mir was ganz Besonderes zu sein.« Sweeney wollte sich noch nicht festlegen. »Ist der Zeitpunkt gerade günstig, können wir über Karen sprechen?«
»Sicher.« Susan Esterhaus bedeutete Sweeney, sich ein paar Schritte von der Menge zu entfernen. »Was wollten Sie von mir wissen?«
»Wie war sie denn so?« Diese Frage schien zur Einleitung genauso gut geeignet zu sein wie jede andere.
Susan dachte einen Moment nach. »Sie kam mir nicht wie eine typische Feministin vor. Ich glaube, sie stammte aus Greenfield, aus einer sehr ländlichen Gegend jedenfalls, und ich hatte den Eindruck, dass all die Dinge, von denen wir sprachen, wie Gleichheit und Entscheidungsgewalt, für sie ganz neu waren. Aber sie lebte regelrecht auf bei den WAWAs, vor allem arbeitete sie mit Begeisterung an der kleinen Kunstzeitschrift, die wir damals herausgaben. Ich war die Verlegerin, und bei unserer Zusammenarbeit lernte ich Karen kennen. Der Name der Zeitschrift lautete FOK , ausgeschrieben ›Frauen organisieren Kunst‹. Ich weiß nicht, was uns dazu getrieben hat, diese ganzen militärisch angehauchten Abkürzungen zu verwenden. Damals dachten wir wohl, das sei hip.« Susan lächelte.
»Wie auch immer. Zurück zu Karen. Sie war eine talentierte Kunsthistorikerin und eine echte Bereicherung für unsere Gruppe. Ich habe mir lange Zeit Vorwürfe gemacht nach ihrem Tod. Schließlich hatte ich gewusst, dass sie depressiv war. Ich versuchte zwar, mit ihr darüber zu sprechen, habe aber sonst nichts weiter unternommen. Ich wusste nicht genug über diese Krankheit, um richtig zu handeln. Ich hätte ihre Familie benachrichtigen sollen, Maßnahmen ergreifen, alles, was nötig gewesen wäre. Aber damals dachte ich, es gebe viele Studenten, die schwermütig seien und sich deswegen nicht gleich umbringen würden.«
»Wann haben Sie
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