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Leises Gift

Leises Gift

Titel: Leises Gift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Iles
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Ich selbst war auch schon einmal so erschöpft. Ich musste in Minneapolis in eine Klinik, so schlimm war es. Ich war völlig überarbeitet. Reiner Zufall, dass kurze Zeit vorher meine Frau gestorben war. Hören Sie, was ich sage? Es gibt einen Zusammenhang zwischen persönlichem Verlust und einem gewissen Realitätsverlust. Sie haben in den vergangenen Monaten gleich mehrere schlimme persönliche Verluste erlitten, Alex. Mehr, als ein Mensch ertragen kann.«
    Sie nickte, während sie sich bemühte, ihre Tränen abzuwischen. »Das mag ja alles sein. Trotzdem …«
    Jack legte ihr einen Finger auf die Lippen. »Versprechen Sie mir nur eins.«
    »Was?«
    »Dass Sie sich morgen Vormittag selbst nicht mehr schaden als unbedingt nötig.«
    Sie lachte bitter. »Was für eine Rolle spielt das jetzt noch?«
    Moran drückte ihren Oberarm. »Sie haben immer noch Freunde in diesem Gebäude, Alex. Das ist alles, was ich dazu sage. Drücken Sie diesem Wichser Dodson nicht das Seil in die Hand, mit dem er Ihnen endgültig den Strick drehen kann.«
    Alex nickte, doch ihr Verstand war bereits vorausgeeilt. Während sie sich entfernte und allein den Flur hinunterging, erschien vor ihrem geistigen Auge das Bild von Chris Shepard, der mit seinem Adoptivsohn Baseball übte. Überlagert wurde dieses Bild wie von einem Schatten von einer anderen Szene: Thora Shepard, die mit Dr. Shane Lansing vögelte. Die Augen Thoras, wild leuchtend vor hemmungsloser Lust, waren die hellsten Punkte im Kopf von Alex. In den Schatten hinter ihr stand Andrew Rusk, sein Gesicht eine grinsende Fratze der Gier, und hinter ihm, nahezu völlig unsichtbar, lauerte eine noch dunklere Gestalt – weit bedrohlicher als alle anderen und doch vollkommen gesichtslos.
    »Ich weiß, dass du da draußen bist«, murmelte Alex leise. »Und ich werde dich finden, du verdammter Mistkerl.«

29
    Während Alex das Hoover Building verließ, kauerte Dr. Eldon Tarver auf einem sandigen Uferstreifen, wobei er darauf wartete, dass seine Eingeweide sich rührten. Er hatte die letzten achtzehn Stunden in den Wäldern von Chickamauga verbracht, während vierzig Meilen entfernt die Polizei von Natchez, das Adams County Sheriff’s Department und die Mississippi Highway Patrol die Gegend nach einem weißen Lieferwagen durchkämmt hatten, der am Grund des Mississippi langsam in Richtung Baton Rouge rollte.
    Tarvers Motorrad stand fünfzehn Meter entfernt unter einer Platane; sein Seesack lag daneben. Eldon war an den Bachlauf gefahren, um Schutz vor der Sonne zu finden und in Ruhe sein Geschäft zu erledigen. Während er auf den Hacken schaukelte und drückte, hielt er die Augen nach Bewegung in der Nähe offen. Schlangen liebten diese Art von Untergrund, die kühlen, feuchten Vertiefungen in der Nähe von Wasser. Sie mussten trinken, genau wie Menschen. Das war eines der Geheimnisse des Umgangs mit den Reptilien: das Wissen, dass sie sich nicht so sehr von Menschen unterschieden. Sie mochten kaltblütig sein, okay, doch Eldon hatte bereits in jungen Jahren gelernt, dass viele Menschen diese Eigenschaft mit den Reptilien teilten. Schlangen fraßen gerne, schliefen gerne und paarten sich gerne, genau wie Menschen. Um zu essen, mussten sie töten. Und um zu töten, mussten sie jagen.
    Die meisten Menschen jagten ebenfalls – zumindest jene, die nicht so entfremdet waren von ihrer Natur, dass sie ihr altes Erbe verloren hatten. Heutzutage jagten sie auf andere Weise, an anderen Orten: in Büros, auf Finanzmärkten, in Labors und in dunklen Gassen großer Städte. Einige Wenige trugen noch immer den Geist des wahren Jägers in der Brust. Alex Morse war einer von ihnen, und das war gut und richtig so. Sie war aus den Lenden eines Jägers geboren, und sie erfüllte lediglich ihre Bestimmung, wie ihre Gene es von ihr verlangten.
    Im Augenblick jagte sie ihn.
    Alex hatte eine schwere Aufgabe vor sich. Eldon kannte Mittel und Wege, sich zu verstecken, die nicht einmal die alten Waldläufer des Westens gekannt hatten. Es hatte Zeiten gegeben, da hatte er sich buchstäblich unsichtbar gemacht für andere Menschen, die keinen halben Meter von ihm entfernt vorbeigegangen waren. Heute war ein gutes Beispiel. Er flüchtete nicht in Panik quer über das Land, wie viele Menschen, die getötet hatten, es an seiner Stelle getan hätten. Er verhielt sich still und blieb in der Nähe des Ortes, an dem er zugeschlagen hatte.
    Häufig spürte er Lethargie nach einer Tat, wie Schlangen, nachdem sie eine große

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