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Leises Gift

Leises Gift

Titel: Leises Gift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Iles
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Beute heruntergeschlungen hatten. Es dauerte seine Zeit, große Dinge zu verdauen. Eine ganze Weile später fing er wieder an, sich zu rühren, sich erneut auf seine Forschung zu konzentrieren. Doch im Augenblick war eine tief sitzende Langsamkeit in seinen Adern, ein Zögern, sich in ein Leben einzukuppeln, das ihm beinahe Angst machte. Das Gefühl war ihm nicht neu. Manchmal fühlte er sich wie ein Retrovirus, nicht lebendig und nicht tot, sondern eine halbe Helix, eine halbe Kette, ewig auf der Suche nach einer Stelle, wo er andocken konnte. Er vermutete insgeheim, dass die meisten Menschen so waren wie er: untätig, dahintreibend wie lebende Leichen, bis sie eine andere Person gefunden hatten, deren Grenzen sie überwinden, die sie infiltrieren konnten. Indem sie sich in jenes andere Leben einschlichen, begannen sie zu funktionieren, zu handeln, zu fühlen – und sich letztendlich zu reproduzieren. Bis sie nach einer Weile (unterschiedlich lang in jedem Fall, doch stets unausweichlich) anfingen, ihren Gastkörper zu töten. Man musste sich nur die verzweifelten Männer und Frauen ansehen, die sich mit der Bitte um Hilfe an Andrew Rusk wandten. Die meisten hatten sich bereits an einen neuen Wirt angedockt und wurden nun von einem wilden Impuls beherrscht, die alte, sterbende Hülle zu verlassen, die sie selbst ausgesaugt hatten, bis sie vertrocknet war. Und sie würden nicht zögern zu töten, falls nötig.
    Eldon lauschte dem Murmeln des Baches und ließ seine Gedanken stromabwärts treiben. Manchmal hatte er Mühe, seine Eingeweide zu leeren. Bevor sein Adoptivvater zu dem Glauben gekommen war, dass Eldon von Gott dazu bestimmt worden sei, mit Schlangen umzugehen, hatte er regelmäßige Wutanfälle bekommen und den Knaben erbarmungslos verprügelt. Aller Zorn, der normalerweise auf die dummen Köpfe seiner biologischen Kinder herabgefahren wäre, war von seiner Frau, einem lebendigen Monument passiver Aggression, auf Eldon umgelenkt worden. Doch damals hatte Eldon das alles noch nicht verstanden – das Einzige, was er verstanden hatte, war Schmerz gewesen. Noch heute trug er mehr als ein Dutzend Brandnarben am Leib, Erinnerungen an die kafkaesken Bemühungen seines Vaters, zu beweisen, dass Eldon nicht einer der Auserwählten, sondern vom Teufel verführt worden war. (Verbrannt zu werden durch das Feuer war ein verdammender Beweis für Sünde.) Das rot glühende Eisen hatte Eldon an Stellen versengt, an denen er sich damals nicht selbst angefasst hatte – genau das gleiche Eisen, das sie in der Kirche benutzten, frei nach Lukas 10, 19: Sehet, ich habe euch Macht gegeben, zu treten auf Schlangen und Skorpione und die ganze Macht des Feindes zu überwinden; und nichts wird euch schaden können. Und für die Skeptiker gab es noch Markus 16, 18 – den Satz, den Eldon auswendig gelernt und zehntausend Mal wiederholt hatte, noch ehe er fünfzehn Jahre alt gewesen war: In meinem Namen werden sie Dämonen austreiben; wenn sie Schlangen anfassen und tödliches Gift trinken, wird es ihnen nicht schaden; die Kranken, denen sie die Hände auflegen, werden gesund …
    Das Geräusch eines Mobiltelefons klang fremdartig in diesen Wäldern, und viele Kreaturen hielten inne, um zu lauschen. Eldon ließ es drei weitere Male läuten, bevor er den Anruf entgegennahm.
    »Ja?«
    »Dr. Traver?«
    Eldon blinzelte dreimal. »Ja.«
    »Ich bin es, Neville Byrd.«
    »Ja?«
    »Ich glaube, ich habe ihn, Sir. Oder es, sollte ich besser sagen.«
    »Fahren Sie fort.«
    »Die Sache, die Sie befürchten, Sir, Sie erinnern sich? Der Automatismus.«
    »Sprechen Sie weiter.«
    »Andy Rusk hat sich soeben auf dieser niederländischen Webseite eingeloggt. Ich habe den Eindruck, dass er eine Art Authentifizierungsprotokoll durchläuft. Um seine Identität zu bestätigen, verstehen Sie?«
    »Und?«
    »Nun ja … ich meine, wenn er das morgen wieder macht, würde ich sagen, dass wir den Auslöser gefunden haben. Wenn er sich am nächsten Tag nicht meldet, würde die Hölle losbrechen … oder was immer es ist, das Sie befürchten.«
    Es fiel Eldon schwer, sich auf das plötzliche Eindringen der Moderne zu konzentrieren. »Sehr gut. Rufen Sie mich an, sobald Sie sicher sind.«
    Neville Byrd atmete schweigend ins Telefon … er hechelte fast, und offensichtlich verwirrte ihn die anscheinende Losgelöstheit seines Auftraggebers. »Mach ich, Dr. Traver. Sonst noch etwas, Sir?«
    »Nein.«
    »Also gut, dann.«
    Die Verbindung wurde unterbrochen.
    Eldon

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