Leises Gift
Selbst heute noch warf ihre Arbeit an jenem Tag Dividende ab.
»Ich habe Sie hergebeten«, sagte Direktor Roberts, »weil ich herausfinden möchte, ob es abschwächende oder mildernde Umstände gibt, von denen ich nichts weiß – Umstände, die Ihr Verhalten in den letzten Wochen und Monaten rechtfertigen könnten.«
Alex wusste, dass ihr das Staunen ins Gesicht geschrieben stand.
»Bitte setzen Sie sich«, sagte der Direktor. »Nehmen Sie sich einen Augenblick Zeit, und denken Sie über meine Frage nach.«
Sie versuchte sich zu sammeln und Argumente ins Gedächtnis zu rufen, die möglicherweise zu ihren Gunsten sprachen, doch ihr wollte nichts einfallen. »Ich habe keine Entschuldigung, Sir«, sagte sie schließlich. »Ich kann nichts zu meiner Verteidigung vorbringen, außer dass ich überzeugt bin, dass meine Schwester ermordet wurde, zusammen mit wenigstens acht weiteren Menschen.« Alex sah, wie Jack Morans Miene sich verdunkelte, doch sie redete weiter. »Ich habe keine stichhaltigen Beweise, um diese Behauptungen zu untermauern. Alle meine Aktionen im Lauf der letzten Wochen waren darauf ausgerichtet, solche Beweise zu finden. Gestern Abend wurde ich fast umgebracht von einem Mann, der meine Arbeit mit allen Mitteln aufhalten will. Das Police Department von Natchez, Mississippi, kann Ihnen das bestätigen.«
Direktor Roberts sah sie eine ganze Weile schweigend an. »Wenn ich recht informiert bin«, sagte er dann, »glaubt weder die Mississippi State Police noch eines der zuständigen lokalen Polizeiämter, dass derartige Morde je verübt wurden. Unser Büro in Jackson ist der gleichen Ansicht.«
Alex bemühte sich, sämtliche Emotionen aus ihrer Stimme fernzuhalten. »Das weiß ich sehr wohl, Sir. Doch es handelt sich in diesen Fällen nicht um konventionelle Verbrechen. Es sind genaugenommen sehr fortschrittliche Methoden der Vergiftung, ähnlich biologischen Waffen. Die Todesfälle treten ein, nachdem die Verabreichung des Giftes beziehungsweise des biologischen Wirkstoffs nur noch äußerst schwierig oder überhaupt nicht mehr nachweisbar ist.«
»Ist nicht eine Anzahl der Opfer an Krebs gestorben?«, fragte Roberts.
»Das stimmt, Sir. Sechs der neun Opfer, von denen ich weiß. Doch ich glaube, dass es noch mehr gegeben hat. Möglicherweise sehr viel mehr …«
»Alex«, unterbrach Jack mit sanfter Stimme. »Sie haben im vergangenen Dezember Ihren Vater verloren. Ihre Schwester starb erst vor einem Monat völlig unerwartet an einem Schlaganfall. Ihre Mutter liegt mit Gebärmutterkrebs im Sterben, während wir uns hier unterhalten. Wäre es möglich – ich betone, möglich –, dass Ihr Verstand unter der Einwirkung dieses Drucks eine Erklärung entworfen hat, die außerhalb aller Wahrscheinlichkeiten liegt?«
Sie antwortete nicht sogleich. »Über diese Frage habe ich sehr viel nachgedacht. Es ist eine berechtigte Frage. Doch ich glaube nicht, dass es so ist. Ich glaube darüber hinaus, dass ich das nächste Mordopfer dieses Killerteams bereits identifiziert habe.«
Jacks Unterkiefer sank herab.
Direktor Roberts rieb sich die linke Wange und fragte in härterem Tonfall: »Agentin Morse, ich möchte, dass Sie mir jetzt ganz genau zuhören. Ich biete Ihnen an, eine freiwillige berufliche Auszeit zu nehmen. Wir werden Ihr Fehlen als Sonderurlaub aus medizinischen Gründen in den Akten vermerken. Während dieses Sonderurlaubs möchte ich, dass Sie sich einer ausgedehnten psychiatrischen Untersuchung unterziehen.« Roberts warf einen Seitenblick zu Jack Moran. »Wenn Sie einverstanden sind, annulliere ich die morgige Befragung durch die Dienstaufsicht, bis die Ergebnisse Ihrer Untersuchung vorliegen. Ich mache Ihnen dieses Angebot aufgrund Ihrer beispiellosen bisherigen Erfolge als Krisen-Unterhändlerin für das FBI. Doch als Bedingung für dieses Angebot müssen Sie sich hier und jetzt einverstanden erklären …«, Roberts blickte auf ein Blatt Papier auf seinem Schreibtisch und las vor, »… von sämtlichen weiteren Untersuchungen im Zusammenhang mit dem Tod Ihrer Schwester Abstand zu nehmen, von Ermittlungen gegen den Anwalt Andrew Rusk, Ihren früheren Schwager William Fennell Junior und von jeglicher Einflussnahme auf Ihren Neffen Jamie Fennell.« Roberts sah wieder zu ihr auf. »Sie müssen sich außerdem einverstanden erklären, keinerlei weiteren Kontakt mit Agenten zu unterhalten, mit denen Sie bekannt oder befreundet sind. Derartiger Kontakt kann besagten Personen nur schaden,
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