Leises Gift
sie. »Nach dem morgigen Meeting werden Sie nicht mehr so verdammt überheblich dreinblicken, Agentin. Sie werden den lebenden Beweis abgeben, dass selbst Überflieger wie Sie abstürzen und verbrennen können.«
Alex betrachtete angestrengt ihre Fingernägel. Zwei waren während des Kampfes in der vergangenen Nacht abgebrochen. »Sind Sie fertig mit Ihrer Schadenfreude?«, fragte sie.
Dodson lehnte sich im Sessel zurück. »Lady, ich habe gerade erst angefangen!« Er wollte fortfahren, als das Telefon auf seinem Schreibtisch summte. Er drückte einen Knopf. »Ja, David?«
»Direktor Roberts’ Büro hat eben angerufen, Sir. Der Direktor würde gerne persönlich mit Agentin Morse sprechen.«
Dodson versteifte sich. Er beugte sich vor und drückte erneut auf den Knopf; dann nahm er den Hörer ab und sprach so leise, dass Alex die Worte nicht verstehen konnte. Sie hörte ihn fragen: »Jetzt? Sofort?« Während sie das Geschehen noch voller Staunen beobachtete, legte Dodson den Hörer wieder auf.
»Sie werden sofort im Büro des Direktors verlangt«, sagte er, ohne sie anzusehen.
Alex erhob sich und wartete darauf, dass der Deputy Director sie anblickte, doch das tat er nicht. Sie wandte sich ab und verließ sein Büro, um durch den heiligen Korridor hinunter zum Büro des neu ernannten FBI-Direktors John B. Roberts zu marschieren.
Roberts’ Büro war um ein Beträchtliches größer als das von Dodson. Sein Fenster zeigte hinaus auf die Pennsylvania Avenue, genau wie früher das Büro von J. Edgar Hoover. Doch Hoover hatte die Inauguralparaden von sieben Präsidenten unter seinem Fenster vorbeiziehen sehen, was seither keinem Direktor mehr vergönnt gewesen war. Einige hatten sich nicht einmal lange genug auf dem Posten gehalten, um sich die Namen ihrer Abteilungsdirektoren einzuprägen. Alex fragte sich, wie lange Roberts in diesem Amt überleben würde.
Roberts, ein dunkelhaariger Mann von fünfundfünfzig Jahren, war zum FBI-Direktor bestellt worden, nachdem die erste Welle von Reformen in der Folge des Anschlags vom elften September zum Erliegen gekommen war. Sein Vorgänger hatte nahezu zweihundert Millionen Dollar für ein neues nationales Computersystem ausgegeben, das bis heute nicht funktionierte, während Terroristen mit Säcken voller Bargeld durchs Land streiften, um nicht im digitalen Raster aufzutauchen. Was in der Öffentlichkeit über Roberts bekannt war, klang vielversprechend. Als Bundesanwalt hatte er sich mit einigen der größten Konzerne im Land angelegt und in mehreren Fällen eindeutig nachgewiesen, dass sie unerlaubte Absprachen zum Nachteil amerikanischer Kunden und Investoren getroffen hatten.
Zu Alex’ Erstaunen war Roberts nicht der einzige hochrangige Vorgesetzte im Büro. In einem Clubsessel neben ihm saß ein kräftiger, attraktiver Mann von achtundvierzig Jahren, Deputy Director Jack Moran. Moran war zuständig für Ermittlungen, nicht für Administration, und er war Alex während ihrer Jahre in Washington ein guter Freund gewesen, der sich oft eingeschaltet hatte, um ihr den Rücken von Dodson freizuhalten. Auch wenn Moran oder irgendjemand sonst heute nur wenig für sie tun konnte, wärmte seine Anwesenheit in Roberts’ Büro ihr Herz.
»Hallo, Alex«, begrüßte Moran sie. »Sie sehen müde aus.«
»Ich bin müde.«
»Ich glaube, Sie haben unseren neuen Direktor noch nicht kennen gelernt. John Roberts – Alex Morse.«
Alex trat vor, streckte Roberts die Hand entgegen und sagte: »Special Agent Alex Morse, Sir.«
Roberts ergriff ihre Hand und schüttelte sie fest. »Special Agent Morse, ich bedaure die Umstände sehr, in denen wir uns heute befinden. Ich bin ein enger Freund von Senator Clark Calvert, und ich bin mir sehr wohl bewusst, welch großen Dienst Sie seiner Familie erwiesen haben.«
Der Direktor bezog sich auf den Fall, der Alex’ Karriere in Schwung gebracht hatte, die Entführung der Tochter eines US-Senators mit dem Ziel, Lösegeld zu erpressen. Die Taktik des FBI hatte zu einem gefährlichen Patt im ländlichen Virginia geführt. Alex war es nach neun nervenaufreibenden Stunden des Verhandelns gelungen, die Kidnapper, die sich mit ihrer Geisel verschanzt hatten, zur Aufgabe und Freilassung des Mädchens zu überreden. Um die Illusion der Unverletzlichkeit offizieller Regierungsvertreter aufrechtzuerhalten, war kein Wort über den Zwischenfall an die Medien gelangt – doch Alex’ Karriere war von diesem Tag an auf der Überholspur verlaufen.
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