Leises Gift
während Andrews Freunde vor Angst wie erstarrt danebengestanden und nichts unternommen hatten, um ihm zu helfen. Wie damals, als seine Blase sich zu leeren und einen Ozean von Pisse das Bein hinunter zu fluten gedroht hatte. Rusk hob den Whiskey-Tumbler an die Lippen und nahm einen großen Schluck. Whiskey auf der Arbeit war eine Schwäche, die er sich in den vergangenen Wochen immer häufiger gestattet hatte, Balsam gegen die Angst.
Er füllte den Tumbler mit Woodford Reserve nach; dann hob er ein Foto im Postkartenformat von seinem Schreibtisch und betrachtete es. Das Bild zeigte eine dunkelhaarige Frau mit einem kantigen Gesicht und tief liegenden Augen, die selbst auf einem Foto lebendig aussahen. Rusk wusste, dass die Frau auf dem Bild niemals auf ihn hereinfallen würde, ganz gleich, was er ihr sagte. Vielleicht, wenn er sie eher kennen gelernt hätte – als Frischling im College, während er bereits Senior war, und betrunken, auf einer Verbindungsparty –, doch selbst das bezweifelte er. Diese Frau hatte, was den meisten Frauen fehlte: Selbstvertrauen, und zwar in rauen Mengen. Der Augapfel ihres Daddys, das war nicht zu übersehen. Das war wohl auch der Grund, der sie zum FBI geführt hatte.
»Spezialagentin Alex Morse«, murmelte er. »Neugieriges Miststück.«
Rusks Telefon läutete, und seine Sekretärin beantwortete den Anruf. Sie hatten immer noch Sekretärinnen in seiner kleinen Firma – keine persönlichen Assistentinnen –, und es waren alles Frauen der alten Schule, durch und durch. Sie erhielten großzügige Vergünstigungen und leisteten dafür im Gegenzug gewisse Dinge, und alle waren zufrieden. Rusk hatte gelesen, dass es in der Zentrale von Google in Mountain View eine Regel gab: Kein Mitarbeiter sollte je weiter als fünfzehn Meter von Nahrung entfernt sein. Aus diesem Grund waren überall im gesamten Google-Komplex Snackautomaten aufgestellt worden. Die Regel von Rusk – eingeführt von Andrews Vater in seiner weit ehrwürdigeren Kanzlei – war gut und gerne fünf Jahrzehnte älter als das Edikt von Google, und sie lautete folgendermaßen: Kein Partner soll jemals weiter als fünfzehn Meter von einem guten und willigen Frauenhintern entfernt sein. Andrew Junior hatte diese Tradition in seine eigene Kanzlei übernommen – mit höchst befriedigenden Ergebnissen.
Er kippte den letzten Schluck aus dem Tumbler hinunter und ging zu seinem Schreibtisch, wo sein Flachbildschirm beharrlich leuchtete. Auf dem Schirm blinkte die Portalgrafik einer holländischen Webseite namens EX NIHILO – ein schwarzes Loch mit einem schimmernden Ereignishorizont. Rusk erinnerte sich an ein paar Brocken Latein aus seiner Zeit an der Highschool: ex nihilo bedeutete »aus dem Nichts«. Gegen eine nicht unbeträchtliche Gebühr garantierte die Seite absolute Anonymität im digitalen Reich des World Wide Web. Die Firma bot auch andere Dienstleistungen an, die Diskretion erforderten, und es war eine dieser Dienstleistungen, die Rusk für diesen Tag beanspruchte. Er vermutete, dass Kinderpornographiesüchtige den Löwenanteil der Kundschaft von EX NIHILO ausmachten, doch das kümmerte ihn nicht. Für ihn zählte nur, dass die Firma ihn schützen konnte.
Partner, sinnierte er und rief sich die zynische Stimme seines Vaters ins Gedächtnis. Sämtliche Partnerschaften zerbrechen letzten Endes, genau wie Ehen. Das einzige Leben nach dem Tod, das einem Menschen jemals widerfährt, ist das Aufrechterhalten einer Ehe oder Partnerschaft, nachdem sie vorbei ist. Und das ist kein Leben nach dem Tod – das ist lebendiges Begrabensein.
Rusk hasste die meisten Dinge an seinem Vater, doch eine Sache musste er ihm lassen: Der Mann hatte recht gehabt, was die meisten Dinge im Leben angeht.
Rusk bewegte den Cursor zu einem Formularfeld und tippte 3,141592653 ein – die Zahl Pi bis zur neunten Stelle hinter dem Komma. Als Knabe hatte er Pi bis zur vierzigsten Stelle hinter dem Komma auswendig gelernt, um seinen Vater zu beeindrucken. Unmittelbar auf seinen stolzen Vortrag zum Abendessen hatte der liebe alte Dad ihm von einem indischen Knaben erzählt, der Pi bis zur sechshundertsten Stelle nach dem Komma auswendig konnte. Eine typische väterliche Reaktion im Ruskschen Heim. Nichts und niemand war jemals gut genug gewesen für Andrew Jackson Rusk Senior.
Rusk wiederholte sein Passwort und klickte auf BESTÄTIGEN. Mit diesem Vorgang aktivierte er einen digitalen Mechanismus, der in den nächsten Wochen seine
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