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Leises Gift

Leises Gift

Titel: Leises Gift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Iles
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schaden.«
    »Überanstrengen Sie sich bloß nicht!«
    Sie legte wortlos auf, doch Chris wusste, dass sie die Nummer in weniger als einer Stunde gefunden haben würde.
    Ändern Sie Ihren Alltag nicht, hatte Agentin Morse gesagt. Unternehmen Sie bloß nichts, das Ihren Killer vorzeitig warnen könnte.
    »Meinen Killer, pah!«, sagte Chris laut. »Was für ein Schwachsinn!«
    Er nahm sein Stethoskop und ging zur Tür, doch das Summen des Telefons ließ ihn innehalten. Er angelte nach dem Hörer. »Haben Sie Foster etwa schon gefunden?«
    »Noch nicht. Ihre Frau ist am Apparat.«
    Chris spürte eine weitere Woge der Betäubung, die sich in ihm ausbreitete. Thora rief nur selten bei ihm im Büro an – sie wusste, dass er zu beschäftigt war, um Zeit am Telefon zu verschwenden. Er blickte hinunter auf ihr Bild, während er auf eine Eingebung wartete, was er tun sollte. Doch was er auf dem Bild sah, war nicht seine Frau, sondern Spezialagentin Alex Morse, die ihn kühl anstarrte.
    Dumme Fehler, hatte Agentin Morse gesagt. Selbst die Besten machen sie gelegentlich.
    »Sagen Sie Thora bitte, dass ich mit einem Patienten im Untersuchungszimmer bin, Jane.«
    »Was?«, fragte die Rezeptionistin, offensichtlich völlig überrascht.
    »Ich hänge weit hinter meinem Zeitplan zurück, Jane. Tun Sie einfach, was ich sage. Ich rufe sie zurück, sobald ich Zeit finde.«
    »Wie Sie wünschen, Chef. Sie unterschreiben meine Gehaltsschecks.«
    Chris wollte auflegen, doch in letzter Sekunde fiel ihm noch etwas ein. »Suchen Sie Fosters Nummer für mich heraus, okay, Jane? Haben Sie das?«
    Die Koketterie verschwand von einer Sekunde zur anderen aus Janes Stimme. Sie wusste genau, wann ihr Chef es ernst meinte.
    »Verstanden, Doc!«, antwortete sie.

3
    Andrew Rusk hatte Angst.
    Er stand am Fenster seiner Anwaltskanzlei und starrte hinaus auf die unregelmäßige Skyline von Jackson, Mississippi. Keine sonderlich beeindruckende Skyline, zugegeben, doch Rusk hatte das Eckbüro im sechzehnten Stock. Wenn er nach Norden blickte, konnte er bis zu den bewaldeten Ebenen sehen, wo die Stadtflucht der Weißen das einst schläfrige Hinterland in geschäftige Enklaven für Yuppies des einundzwanzigsten Jahrhunderts verwandelte. Noch weiter draußen brachte die neue Nissan-Fabrik den zahlreichen sich abrackernden Arbeitern des Staates relativen Wohlstand. Sie pendelten Tag für Tag aus Entfernungen von bis zu hundertfünfzig Kilometern aus den winzigen Ortschaften herbei.
    Hinter ihm – im Westen und von seinem Büro aus nicht zu sehen – lebten die ungebildeten Schwarzen, welche die Stadt in den vergangenen zwanzig Jahren nach unten gezogen hatten. Rusk und ein paar vertrauenswürdige Freunde bezeichneten sie, wenn sie unter sich waren, als »Unberührbare«. Die Unberührbaren brachten sich in erschreckender Anzahl gegenseitig um und raubten mit ausreichender Regelmäßigkeit andere aus, sodass sie bei den weißen Bewohnern Jacksons große Angst auslösten. Doch sie waren nicht die Ursache von Rusks Angst. Sie waren unsichtbar von seinem Büro aus, und er arbeitete hart, damit es auch in sämtlichen anderen Bereichen seines Lebens so blieb. Aus diesem Grund hatte er sein Haus in einem Eichenwald nördlich der Stadt gebaut, in der Nähe von Annandale, einem Golfclub, der die selbstbewusste Nische zwischen dem alten Geld des Jackson Country Clubs und den jungen Optimisten von Reunion schloss.
    Jeden Nachmittag um halb fünf nahm Rusk den Lift hinunter zur Tiefgarage, stieg in seinen schwarzen Porsche Cayenne Turbo und jagte nach Norden in sein Refugium aus Stein und Glas inmitten von Eichen und Pinien. Jeden Tag lag seine zweite Ehefrau neben ihrem Pool, wenn er ankam. Lisa war noch immer jung genug für einen String-Bikini, doch sie trug im Sommer nur selten Schwimmsachen. Nach einem Begrüßungskuss oder – in letzter Zeit häufiger – nachdem er sich ihr Gemecker über irgendeine Lappalie angehört hatte, ging er nach drinnen, um sich einen doppelten Drink einzuschenken. Seine schwarze Köchin hatte stets das Abendessen servierfertig, und Andrew freute sich jeden Tag darauf.
    Doch jetzt überdeckte der Geschmack von Angst seinen Appetit. Rusk hatte seit fünfundzwanzig Jahren keine richtige Angst mehr gehabt, doch er hatte das Gefühl niemals vergessen. Seine Angst schmeckte wie die an der Junior Highschool. Wie damals, als er von einem Zehntklässler in eine Ecke gedrängt worden war, der ihm das Gesicht zu Brei hatte schlagen wollen,

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