Leises Gift
verspürt hatte, war völlig verflogen und Nervosität, Zorn und so etwas wie Angst gewichen.
Mit einem Mal hatte sich alles geändert.
Alex saß mit aufgestützten Ellbogen vor dem Schreibtisch in ihrem Hotelzimmer in Washington. Sie war benommen von Ativan und dem Wein vom Zimmerservice. Sie hatte stundenlang auf ihren Computerbildschirm gestarrt, voller Angst, dass das Glockensignal nicht erklingen könnte, wenn Jamie sich auf MSN einloggte. Die Glocke hatte bis jetzt nicht geläutet, jedoch nicht wegen einer Fehlfunktion. Jamie hatte sich einfach noch nicht eingeloggt, aus welchem Grund auch immer. Es konnte eine ganz einfache Ursache haben, beispielsweise einen Stromausfall in Jackson, doch Alex vermochte nicht so recht an eine solche Möglichkeit zu glauben. Angesichts dessen, was Jamie ihr während ihres letzten gemeinsamen Video-Chats anvertraut hatte, fürchtete sie, der Junge könnte irgendeine Verzweiflungstat begangen haben …
Zum Beispiel, von zu Hause weglaufen.
Vor einer halben Stunde hatte sie dem inneren Druck nachgegeben und auf dem Festnetzanschluss von Bill Fennells Haus angerufen. Sie hatte das Recht, mit ihrem Neffen zu sprechen (und sie war fest entschlossen, Bill das auch zu sagen, in sehr bestimmtem Ton), doch sie bekam keine Gelegenheit dazu. Sie bekam niemanden an den Apparat, außer einem Anrufbeantworter.
Alex schaute hinüber zum Hotelbett und überlegte, ob sie sich schlafen legen sollte. Sie hatte am nächsten Morgen in aller Frühe ein Meeting mit den Leuten von der Dienstaufsicht, und dazu musste sie fit und ausgeschlafen auftreten. Kompetent. Zuverlässig. Des Vertrauens würdig, das die Behörde in sie setzte.
Ha!
Sie würde nicht das Risiko eingehen, Jamie zu verpassen.
Unter gar keinen Umständen. Koste es, was es wolle.
32
Haben Sie genug Faden?«, fragte die Schwester.
»Ich glaub schon«, antwortete Chris, während er den letzten von dreiundzwanzig Stichen verknotete.
Der aufgeschlitzte Arm unter seinen Händen gehörte einem fünfzig Jahre alten Handwerker namens Curtis Johnese, einem gewaltigen Mann in fleckigem Overall mit einem kürbisförmigen Schädel und einem Stück Skoal hinter der Lippe. Vor einer Stunde hatte Mr. Johnese es irgendwie fertiggebracht, sich mit einer Tischsäge einen zwanzig Zentimeter langen Schnitt auf dem Unterarm beizubringen. Einer Gewohnheit aus dunklen Vorzeiten folgend, war er zur Praxis von Tom Cage gefahren, um sich die Wunde nähen zu lassen, und nicht zur Notaufnahme, die vier Mal so viel gekostet hätte und wo es vier Mal so lange gedauert hätte. Johnese hätte Dr. Cage persönlich vorgezogen, doch Tom war in Chris’ Behandlungszimmer gekommen und hatte ihn gefragt, ob er die Wunde versorgen könnte. Unter Toms zahlreichen chronischen Erkrankungen war auch eine Psoriasis-Arthropathie, und nach einem erst kurze Zeit zurückliegenden Anfall fühlte er sich noch nicht wieder zu genauem chirurgischem Arbeiten imstande.
Chris legte seine Zange ab, hob den Papierkragen und nahm seine Arbeit in Augenschein. Während er hinsah, spürte er einen scharfen, pulsierenden Schmerz an der Schädelbasis. Er hatte diesen Schmerz immer wieder in unregelmäßigen Abständen gespürt, seit er am Morgen aufgewacht war; er war so stark, dass er bereits drei Advil eingenommen hatte.
Zu seiner Überraschung war der Schmerz davon noch schlimmer geworden, nicht besser. Zuerst hatte er angenommen, dass es sich um Spannungskopfschmerzen handelte – Thora würde am nächsten Tag zurückkehren, und es würde Ärger geben, wenn er sie zur Rede stellte –, doch der Schmerz war anhaltend, als signalisierte er den Anfang einer fiebrigen Erkrankung.
»Sieht großartig aus, Mr. Johnese«, sagte er, während er sich den Nacken rieb. »Lassen Sie sich von Holly noch eine Tetanus-Auffrischung geben, dann können Sie nach Hause. Kommen Sie in einer Woche wieder, und ich ziehe Ihnen die Fäden.«
Johnese lächelte. »Danke, Doc«, sagte er. »Dr. Cage geht es doch gut, oder?«
»Es geht ihm bestens, keine Sorge. Wir sind heute Morgen nur ein wenig im Stress.«
Der Handwerker betrachtete seinen gebräunten Unterarm, während Holly ihm einen Verband anlegte. »Ziemlich gute Arbeit für einen jungen Arzt, würde ich sagen. Machen Sie so weiter und hören Sie auf das, was Dr. Cage sagt, dann machen Sie bestimmt nichts falsch.«
»Ganz Ihrer Meinung, Sir«, sagte Chris und tätschelte dem Riesen die Schulter.
Er verließ das Behandlungszimmer, ging in sein
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