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Leises Gift

Leises Gift

Titel: Leises Gift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Iles
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auf drei Gestalten, die sich im tiefsten Winter hinter einem Entenschirm duckten. Zwischen zwei attraktiven Männern im besten Alter war ein Mädchen, das die Arme um den Hals eines schwarzen Labrador Retrievers geschlungen hatte. Ihr Grinsen enthüllte zwei fehlende Zähne, und ihre Augen leuchteten, als könnten sie nicht mehr Glück fassen als in jenem Moment. Trotz ihrer Jugend sah Chris bereits Andeutungen der Frau, zu der Alex geworden war.
    Kilmer klappte das Bild hoch. Darunter war ein weiterer Schnappschuss, der Alex vermutlich bei ihrer Highschool-Abschlussfeier zeigte. Sie stand zwischen den gleichen beiden Männern, älter inzwischen und diesmal in dunklen Anzügen. Außerdem waren zwei Frauen auf dem Foto zu sehen, klassische Mississippi-Ehefrauen mit zu viel Make-up. Beide lächelten breit und offen.
    »Ist sie nicht eine Schönheit?«, fragte Kilmer.
    »Haben Sie Kinder, Will?«
    Der alte Mann schluckte. »Wir hatten ein Mädchen. Sie war ein Schuljahr hinter Alex. Sie starb in dem Jahr, als Alex ihren Abschluss gemacht hat. Ein betrunkener Fahrer. Danach … ich schätze, Alex hat ihren Platz in meinem Herzen eingenommen.« Kilmer klappte die Brieftasche zu, ging zum Tresen zurück und trank den Rest seines Biers.
    »Es tut mir leid«, sagte Chris.
    »Gehört zum Leben«, sagte Kilmer stoisch. »Man nimmt das Gute zusammen mit dem Schlechten. Gehen Sie schlafen, Doc. Und machen Sie sich keine Sorgen. Ich passe auf Sie auf.«
    Chris schüttelte Kilmer die Hand und ging den Flur hinunter zu seinem Schlafzimmer.
    »Danke für das Sandwich!«, rief Kilmer ihm hinterher.
    Chris winkte; dann machte er kehrt und ging noch einmal ins Fernsehzimmer. Bens Atmen hatte sich nicht verändert, doch es war ihm irgendwie gelungen, das Bettzeug um sich herum zu knoten. Chris versuchte sich vorzustellen, wie es sein würde, wenn er einen Anruf bekäme wie jenen, den Will Kilmer in jener lange zurückliegenden Nacht erhalten hatte, doch es gelang ihm nicht. Als er so dastand und das friedliche Gesicht betrachtete, dachte er an das Trauma, das der Junge erleiden würde, sollte sich heraus stellen, dass seine Mutter nicht die Frau war, die Chris oder Ben in ihr gesehen hatten. Indem er um ein Wunder betete, an das er selbst nicht mehr glauben konnte, schloss Chris leise die Tür und begab sich in sein eigenes Schlafzimmer.

31
    Eldon Tarver stand im tiefen Mondschatten unter den herabhängenden Zweigen einer Wassereiche und beobachtete, wie die Lichter im Haus auf dem Hügel verloschen. Sein Motorrad lag im Unterholz in der Nähe des Highways. Ein Rucksack lag am Boden zu seinen Füßen. Er hatte den Tag im Chickamauga Hunting Camp im Jefferson County verbracht und auf den Anbruch der Nacht gewartet. Tarver hatte im Verlauf des Tages vieles getan, doch eines nicht – die Anrufe von Andrew Rusk beantwortet.
    Als er am Vorabend hier eingetroffen war und eine Frau gesehen hatte, war sein erster Gedanke gewesen, dass er sich in der Adresse geirrt hatte. Die Frau war vermeintlich nicht in der Stadt. Doch als er die Koordinaten auf seinem GPS-Handempfänger überprüft hatte, hatten sie exakt mit seinen Notizen übereingestimmt. Er war näher herangeschlichen, nahe genug, um die Frau deutlich zu erkennen und mit den Fotos in seinem Rucksack zu vergleichen. Es war nicht die Frau auf den Bildern. Sie passte zu einem anderen Bild, das sich tief in Eldons Gehirn eingebrannt hatte – einem Bild, das er nur kurz in der von Rusk gelieferten Fennell-Akte gesehen hatte. Die Frau in dem Haus war Spezialagentin Alexandra Morse, die Schwester von Grace Fennell.
    Ihre Anwesenheit hier – die Tatsache, dass sie sich mit seiner nächsten Zielperson unterhielt – hatte so tief greifende Implikationen, dass Tarver beinahe in Panik geraten wäre. Doch das Leben hatte ihn gelehrt, mit dem Unerwarteten zu rechnen.
    Er hatte geglaubt, Agentin Morse wäre leichte Beute, trotz aller Ausbildung, die sie beim FBI erhalten haben mochte. Sie war schließlich nur eine Geisel-Unterhändlerin, keine taktische Spezialistin. Doch Agentin Morse hatte gekämpft wie ein Dämon, als Tarver sie angegriffen hatte. Er war nicht einmal sicher gewesen, dass er sie töten wollte, bevor er weniger als drei Meter von ihr entfernt gewesen war. Einen Agenten des FBI zu töten war eine ernste Angelegenheit. Das Gedächtnis der Behörde war lang, und das Bureau vergaß solche Verbrechen niemals. Alex Morses Verhalten allerdings – wie sie in die Auffahrt geschlüpft war

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