Leises Gift
umherschweifenden Blicken offen hielt. Das Mobiltelefon an Bord zu benutzen verstieß gegen das Gesetz, und sie besaß keinen Dienstausweis mehr, den sie hätte vorzeigen können, um eine Ausnahme zu erwirken. Es dauerte eine ganze Weile, bis das Telefon sich mit einem Netz verband. Drei Mailbox-Nachrichten waren in der Zwischenzeit eingegangen. Verstohlen hielt sie das Gerät ans Ohr und wählte die Mailbox an.
Die erste Nachricht war von Will Kilmer. »Ich dachte eigentlich, ich würde heute Morgen von dir hören, Mädchen. Da ich nichts von dir gehört habe, nehme ich an, dass es schlechte Neuigkeiten sind. Du darfst dich davon nicht unterkriegen lassen. Ge gen vier Uhr heute Morgen hat mein Mitarbeiter in Greenwood ein Video von Thora Shepard und diesem Chirurgen in flagranti geschossen. Ich schicke dir einen Clip per E-Mail auf deinen Computer und ein paar Standbilder auf das Handy. Keine Spur von Andrew Rusk oder sonst einer verdächtigen Person in Greenwood. Aber dieses Video hat es in sich, Mädchen! Der Doc tut mir ehrlich leid. Er ist ein netter Kerl. Na ja, ich hoffe, ich irre mich wegen deiner Anhörung. Schaff deinen Hintern bald wieder nach Hause, hörst du? Deine Mama hält immer noch durch, und wir vermissen dich.«
Alex verspürte abwechselnd Wogen der Erleichterung und der Trauer, doch sie hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Die zweite Nachricht war von Chris Shepards Sprechstundenhilfe: die Mietwageninformationen, die Alex in Jackson benötigen würde. Sie kritzelte alles auf die Rückseite einer FBI-Visitenkarte aus ihrer Handtasche; dann lehnte sie sich wieder gegen das Fenster.
Als sie die Stimme der dritten Nachricht hörte, hätte ihr Herzschlag beinahe ausgesetzt. Der Anrufer war John Kaiser, einer der besten Außenagenten im FBI. Kaiser hatte mehrere Jahre in Quantico, Virginia, verbracht und Serienmorde untersucht, doch vor einigen Jahren war er auf eigenen Wunsch nach New Orleans zurückversetzt worden, wo er kurz darauf einen Mordfall in der Kunstszene gelöst hatte, der internationale Schlagzeilen machte. Alex hatte vor zehn Tagen versucht, Kaiser zu erreichen, gleich als ihr zum ersten Mal klar geworden war, womit sie es möglicherweise zu tun hatte, doch er hatte ihre Anrufe nicht beantwortet. Seine Kollegen im FBI-Büro New Orleans hatten behauptet, er wäre zusammen mit seiner Frau, einer Kriegsberichterstatterin namens Jordan Glass, in einem ausgedehnten Urlaub, also hatte Alex es schließlich aufgegeben.
»Alex, hier ist John Kaiser«, sagte er. »Ich melde mich jetzt erst bei Ihnen, weil ich die ganze Zeit als verdeckter Ermittler unterwegs war. Ich konnte in den vergangenen sechs Wochen nicht einmal mit meiner Frau Kontakt aufnehmen. Als ich Ihre Nachrichten gehört habe, habe ich meinen Ohren nicht getraut. Ich muss unbedingt wissen, was Sie sonst noch alles haben. Sie haben meine Handynummer. Rufen Sie mich an, jederzeit.«
Alex hatte Mühe, die Emotionen im Zaum zu halten, die in ihr aufwallten. Die Erleichterung war groß genug, um ihr die Tränen in die Augen zu treiben. Doch dann kam ihr ein neuer, furchtbarer Gedanke: Kaiser hatte seine Nachricht wahrscheinlich auf ihrer Mailbox hinterlassen, bevor er von ihrer Suspendierung erfahren hatte.
Sie sank im Sitz zusammen und verbarg das Gesicht in der linken Hand. Von allen Menschen auf der Welt, deren Hilfe sie sich hätte wünschen können, stand Kaiser an erster Stelle. Nicht nur das – er war ihr sogar etwas schuldig.
Vor zwei Jahren war Kaiser von zwei Detectives der Mordkommission der Polizei von New Orleans, die unter Mordverdacht standen, als Geisel genommen worden. Das New Orleans Police Department war jahrzehntelang durch ein alles durchdringendes System aus Korruption behindert worden, das dem Ruf der Stadt schweren Schaden zugefügt hatte. Anfang der Neunzigerjahre wurden mehrere Cops des NOPD wegen Mordes verurteilt, und beinahe hätte die Bundesregierung die Polizeikräfte der Stadt übernommen. Zehn Jahre später war die Korruption immer noch tief verwurzelt. Kaiser hatte zwei Detectives verfolgt, die den Import harter Drogen in die Stadt lenkten, als einer seiner Informanten verdrahtet zu einem Treffen im French Quarter gegangen war. Der Draht wurde entdeckt, und Kaiser war in das Treffen geplatzt, um seinen Informanten zu retten. Er war als Geisel genommen worden, und die beiden Detectives hatten sich mit ihm in einem Apartment in der Royal Street verbarrikadiert. Alex war zu jener Zeit in Atlanta
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