Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leises Gift

Leises Gift

Titel: Leises Gift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Iles
Vom Netzwerk:
rechte Ecke des Lifts stellte. Der große Mann ging in die linke. Alex bezog die Ecke vorne rechts, neben den Knöpfen, und stand zur Tür gewandt.
    Die Kabine roch neu, und die Türen waren auf Hochglanz poliert. In der verschwommenen Reflexion sah Alex, dass der große Mann einen Bart trug – und ein flammendrotes Feuermal darüber. Es muss ziemlich übel aussehen, dass es sogar in dem verschwommenen Spiegelbild so deutlich zu erkennen ist, dachte Alex.
    Der Aufzug hielt im dritten Stock, und der Mann, der direkt hinter ihr gestanden hatte, stieg aus. Während die Türen sich wieder schlossen, wich Alex in die frei gewordene Ecke zurück. Der Mann mit dem Feuermal sah sie an und nickte, doch statt den Blick danach abzuwenden, musterte er sie unverwandt weiter. Es war ein Verstoß gegen ungeschriebene Gesetze, doch Alex nahm an, dass ihre Narben seine Aufmerksamkeit erweckt hatten – seine professionelle Aufmerksamkeit.
    »Schrotgewehr?«, fragte der Mann und berührte seine eigene Wange.
    Alex errötete. Er hatte richtig geraten. Nur wenige Ärzte sahen, dass ihre Narben von einem Schrotschuss herrührten. Weil ein großer Teil nicht vom Schrot selbst, sondern von umherfliegenden Glassplittern stammte, lagen die meisten mit ihren Vermutungen daneben. Vielleicht war der Mann Unfallchirurg.
    »Ja«, sagte sie nur.
    »Ich möchte nicht, dass Sie sich unbehaglich fühlen. Ich kann nachvollziehen, wie es ist, wenn die Leute einen anstarren.«
    Alex erwiderte seinen Blick. Der große, bärtige Mann war vielleicht sechzig Jahre alt, mit einer tiefen Stimme, die im Verlauf der Jahre wahrscheinlich Tausende von Patienten beruhigt hatte. »Ist das ein Muttermal?«, fragte sie.
    Er lächelte. »Genaugenommen nicht. Es ist eine arteriovenöse Anomalie. Es sieht nicht so schlimm aus, wenn man zur Welt kommt, aber in der Pubertät scheint es plötzlich zu explodieren, und dann sieht es so aus.« Er deutete auf seine Wange.
    Alex setzte zu einer neuen Frage an, doch als hätte er ihre Gedanken gelesen, fuhr der Fremde fort: »Chirurgische Eingriffe machen es oft nur noch schlimmer. Ich möchte dieses Risiko nicht eingehen.«
    Sie nickte. Er war nicht gut aussehend, aber ohne dieses grauenhafte Geflecht aus Indigo und Purpur auf der linken Wange wäre er zweifellos ein stattlicher Mann gewesen.
    Ein weiteres Ping ertönte, und der Lift kam zum Stehen.
    »Einen guten Tag noch«, sagte der Mann und verließ die Kabine.
    Alex stand da wie in Trance. Sie dachte an den Tag in der Bank zurück, an die fliegenden Glassplitter, die sie nur als Lichtblitze wahrgenommen hatte, und an James Broadbent, der mit zerfetzter Brust am Boden lag und Frau und Kinder zurückließ …
    »Miss?«
    Der Mann mit dem Feuermal stand vor ihr. Er hielt die Tür mit dem Ellbogen auf. »Das hier ist das Erdgeschoss.«
    »Oh … entschuldigen Sie. Danke sehr.«
    Er nickte und wartete, bis sie ausgestiegen war, ehe er den Ellbogen zurückzog. »Hatten Sie eine schwere Nacht?«
    »Meine Mutter liegt im Sterben.«
    In seinem Gesicht regte sich aufrichtiges Mitgefühl. »Sie sind in der Onkologie eingestiegen. Ist es Krebs?«
    Alex nickte. »Die Eierstöcke.«
    Der Mann schüttelte den Kopf wie ein tröstender Priester. »Eine furchtbare Krankheit. Ich hoffe, sie muss nicht allzu sehr leiden.«
    »Ich denke, das hat sie bereits.«
    Er seufzte tief. »Das tut mir leid. Wie geht es Ihnen? Sind Sie versorgt?«
    »Ja, danke. Ich wohne drüben im Cabot Lodge.«
    Er lächelte. »Gut. Die Leute im Cabot Lodge wissen, wie man sich um Menschen kümmern muss.«
    »Ja. Danke nochmals.«
    »Jederzeit, Ma’am.«
    Der Mann winkte ihr ein letztes Mal zu; dann drehte er sich um und ging durch einen Gang davon, der tief ins Innere des Krankenhauses führte. Auf dem Boden verliefen farbig markierte Linien, rote und grüne und gelbe und sogar schwarze. Alex fragte sich, ob man seine Diagnose anhand der Linien erraten konnte, falls man die Farbkodierungen kannte, je nachdem, wohin man geschickt wurde. Wahrscheinlich nicht. Die gelbe Linie konnte auch zu einem McDonald’s führen. Sie wusste es einfach nicht. Was sie jedoch wusste – irgendwo im Krankenhaus gab es ein McDonald’s.
    Sie schlang sich ihre Handtasche über die Schulter und trat hinaus in die aufkommende Abenddämmerung, als ihr Mobiltelefon summte. Es war eine Textnachricht von John Kaiser: Ich bin bei Gallman, Mississippi. Noch fünfundzwanzig Minuten bis Jackson. Sehen uns gleich.
    Alex musste sich beeilen.
    Sie

Weitere Kostenlose Bücher