Leises Gift
ein eigenes Krankenhaus für Kinder gab. In ihrem derzeitigen Gemütszustand wäre sie vielleicht nicht imstande gewesen, kranke Kinder zu ertragen.
Sie fand ihre Mutter mehr oder weniger genauso vor, wie sie sie zwei Tage zuvor verlassen hatte. Ihre Leber war größer, ihre Haut gelber, die Nieren noch mehr abgestorben, ihr Leib aufgedunsen. Ihr Eierstockkrebs hatte sich als untypische Variante erwiesen und Bereiche und Organe angegriffen, die normalerweise von dieser Krankheit verschont blieben, und noch immer klammerte sie sich ans Leben. An das Leben – aber nicht ans Bewusstsein, Gott sei Dank.
Alex saß neben ihr und hielt ihre schlaffe, verschwitzte Hand, während sie gegen Wogen der Verzweiflung kämpfte. In Zeiten wie diesen schien es, als gäbe es kein Glück auf der Welt. Und wenn doch, lag es in Unwissenheit: Das Glück von Kindern, die noch nicht gelernt hatten, was sich hinter den Masken der Erwachsenen verbarg, die sie Tag für Tag sahen. Die Leute, die Alex in letzter Zeit kennen gelernt hatte, schienen ausnahmslos darauf aus zu sein, jedes Glück zu zerstören, das sie je gefunden hatten. Als wären sie außerstande, die Hölle des Zusammenlebens mit jenem Partner zu tolerieren, den sie sich früher selbst ausgesucht hatten. Alex fragte sich, ob menschliche Wesen überhaupt dazu bestimmt waren, das zu erreichen, was sie sich wünschten. Diese Frage setzte in gewisser Hinsicht eine göttliche Bestimmung voraus, und der größte Teil ihrer Erfahrungen widersprach dieser Vorstellung. Im Gegensatz zu den meisten anderen Menschen, denen Alex begegnet war, wusste sie instinktiv um die grausame Zerbrechlichkeit eines Lebens. Es war kaum mehr als eine flackernde Flamme im Wind, die jede Sekunde ohne Grund und ohne jede Gerechtigkeit gelöscht werden konnte.
Sie warf einen Blick auf die Uhr. Chris würde bald eintreffen, und John Kaiser nicht viel später. Sie drückte ihrer Mutter ein letztes Mal die Hand; dann hinterließ sie eine kurze Notiz, die die Krankenschwestern ihr später vorlesen konnten: Liebe Mom, ich war hier. Ich liebe dich. Ich hoffe, du hast nicht allzu starke Schmerzen. Ich bin ganz in der Nähe, und ich komme bald wieder. Ich liebe dich, Alexandra.
»Alexandra«, sagte sie leise, erhob sich und trat nach draußen in den Gang. Sie hatte sich nie im Leben wie eine »Alexandra« gefühlt, und doch hatte Margaret Morse den größten Teil ihres Lebens mit dem Versuch verbracht, ihre Tochter zu einer Alexandra zu machen. Girlie-Klamotten, rosafarbene Haarbänder, Debütantinnen-Bälle, Studentinnen-Verbindungen …
Alex trat zur Seite, um einer Gruppe von Ärzten in weißen Kitteln Platz zu machen. Die meisten sahen fünf Jahre jünger aus als sie selbst. Assistenzärzte. Zwei Frauen in der Gruppe starrten sie an. Sie waren neugierig wegen der Narben und fragten sich wahrscheinlich, wie sie selbst mit so etwas umgehen würden. Sie hatten jeden Tag mit Menschen zu tun, die entstellende Narben trugen oder auf andere Weise behindert waren, doch das verdrängten sie erfolgreich – unterstützt dadurch, dass die meisten dieser Menschen ein gutes Stück älter waren als sie selbst. Doch Alex war in ihrem eigenen Alter, eine Frau wie sie, ursprünglich sogar hübscher als sie, und die Tatsache, dass jemand wie sie vom Schicksal entstellt worden war, jagte ihnen Angst ein.
Als Alex den Aufzug erreichte, wartete dort bereits ein Mann. Sie blieb hinter der breitschultrigen Gestalt im weißen Kittel stehen, während sie auf den Lift wartete. Die Luft roch nach Krankenhaus: Alkohol, starke Desinfektionsmittel, Gott weiß was sonst noch alles. Jede Oberfläche in diesem Gebäude war verseucht mit extrem resistenten Bakterien, die nur auf eine Chance lauerten, in einen warmen, feuchten Körper einzudringen, in dem sie sich millionen-und abermillionenfach vermehren konnten, bis sie ihren Wirt vernichtet hatten, der ihnen während ihrer kurzen Zeit auf Erden Nahrung gegeben hatte.
Ein leises Ping ertönte.
Alex trat hinter dem Mann im weißen Kittel in den Aufzug. Ein weiterer Weißkittel stand bereits in der Kabine, beides Mitglieder des gleichen exklusiven Clubs, jener Welt innerhalb der Welt des Krankenhauses, übermenschliche Menschen, deren Lächeln niemals bis zu den Augen reichte, die jeden Tag mit dem Tod zu tun hatten und ihn deswegen noch mehr verdrängten als normale Sterbliche.
Der Mann, der bereits im Aufzug stand, trat zurück und machte dem Neuankömmling Platz, indem er sich in die
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