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Leises Gift

Leises Gift

Titel: Leises Gift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Iles
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Schnellwahltaste für Alex. Die Mailbox antwortete. Er stieß sein Handy zurück in die Tasche und setzte sich auf eine Polsterbank. Seit fünf Wochen nun half er der Tochter seines besten Freundes aus einem Gefühl von Verpflichtung heraus, das keine Grenzen kannte. Er hatte im Lauf der Jahre eine Menge Fälle bearbeitet, die in Sackgassen geendet hatten, und vor etwa zehn Tagen war er für sich zu der Erkenntnis gelangt, dass dies einer jener Fälle war. Doch jetzt durchflutete Adrenalin seine Adern, wie jedes Mal, wenn ein Fall in eine entscheidende Phase geriet. Einen kurzen Moment dachte er an die junge Grace Morse, die niemals sehen würde, wie ihr Sohn die Highschool abschloss. Einen noch kürzeren Moment dachte er an seine eigene Tochter, die er vor so vielen Jahren verloren hatte. Als er sich erhob, um Thora Shepard nach draußen auf die Straße zu folgen, waren all die Schmerzen und die Steifheit des Alters verflogen. Er fühlte sich so jung und lebendig wie seit Jahren nicht. Wohin diese verrückte Frau ihn auch führen mochte – Will Kilmer würde ihr folgen.
     
    Alex stand vor der Herrentoilette, als die Aufzugtüren sich öffneten und der bärtige Mann mit dem Muttermal ausstieg, dem sie bereits am Vortag begegnet war. Er ging in eine Akte versunken den Korridor hinunter, ohne aufzublicken. Plötzlich aber drehte er sich um und schaute zurück zu Alex. »Oh. Hallo.«
    »Hallo«, rief Alex.
    Der Bärtige lächelte, wandte sich wieder ab und ging den Korridor hinunter in Richtung der akademischen Büros. Alex zögerte kurz; dann folgte sie ihm. Als sie die letzte Ecke umrundete, sah sie seinen breiten, in einem weißen Kittel steckenden Rücken gerade noch in einem Büro verschwinden. Das Messingschild auf der Tür verkündete ELDON TARVER, MD.
    Sie eilte zurück zur Herrentoilette, doch Chris war immer noch nicht wieder draußen. Sie öffnete die Tür einen Spalt und rief seinen Namen.
    »Was ist denn?«, stöhnte Chris.
    »Ich habe gerade Dr. Tarver gesehen. Ich war gestern mit ihm zusammen im Aufzug und wusste nicht, dass er es war.«
    »Wo ist er jetzt?«
    »In seinem Büro. Bist du bald fertig?«
    »Ja. Sprich nicht ohne mich mit ihm, hörst du?«
    »Beeil dich, Chris.«
    Sie schloss die Tür und ging zurück zu Tarvers Ecke des Korridors. Seine Bürotür war geschlossen. Sie war versucht zu klopfen, doch welchen Vorwand hatte sie, eine Unterhaltung anzufangen? Die einzige Gemeinsamkeit zwischen Tarver und ihr war ein entstelltes Gesicht. Der Bursche würde sich am Ende noch einbilden, dass sie scharf auf ihn war.
    »Okay«, sagte Chris, der in diesem Moment um die Ecke bog. Sein Gesicht war bleich und verschwitzt.
    »Schaffst du es?«
    »Ich glaub schon.«
    Sie drehte sich zur Tür um und klopfte energisch, doch niemand antwortete. Sie wartete, klopfte erneut. Wieder keine Reaktion.
    »Er ist nicht mehr da«, sagte sie. »Merkwürdig.«
    »Wieso? Ich nehme an, er ist nur …«
    »Oh, hallo«, sagte die inzwischen vertraute Bassstimme. »Was kann ich für Sie tun?«
    Chris streckte ihm die Hand entgegen. »Dr. Tarver, mein Name ist Chris Shepard. Ich bin Internist aus Natchez.«
    Tarver ergriff seine Hand. »Wollen Sie zu mir?«
    »Ich denke doch. Peter Connolly hat Sie empfohlen als Experten auf dem Gebiet onkogener Viren, insbesondere Retroviren.«
    Tarver starrte ihn überrascht an. »Ich bin nicht sicher, ob ich mich als Experten bezeichnen würde. Ich habe zwar eine Reihe von Abschlüssen, bin aber kein staatlich anerkannter Virologe.«
    »Nichtsdestotrotz scheinen sowohl Peter als auch Dr. Pearson der Meinung zu sein, dass Sie sich auf diesem Gebiet extrem gut auskennen, Sir.«
    »Ich habe einige praktische Erfahrung, zugegeben.« Tarver sah zu Alex. »Und wer sind Sie?«
    »Nancy Jenner. Ich bin Dr. Shepards Assistentin.«
    Dr. Tarvers Augen funkelten. Er sah Chris an. »Ich beneide Sie«, sagte er.
    Chris warf Alex einen bösen Blick zu, den sie jedoch ignorierte.
    »Warum gehen wir nicht in mein Büro?«, sagte Tarver mit einem Blick auf die Uhr. »Ich kann fünf Minuten erübrigen, ehe ich einen anderen Termin habe.«
    Er führte sie in sein Büro, das sehr viel kleiner war als das von Dr. Pearson. Drei der vier Wände waren gesäumt von Bücherregalen. Die vierte war übersät mit gerahmten Fotos, viele davon Schwarz weiß. Tarver war älter, als Alex vermutet hätte. Es gab ein Foto von ihm mit Präsident Nixon, der ihm etwas an die Brust heftete. Ein weiteres Foto zeigte Tarver vor

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