Leises Gift
einem Gebäude, das Alex vage bekannt vorkam. Über dem Eingang hing ein großes weißes Banner: HEUTE KOSTENLOSE AIDS-TESTS. Auf einem anderen Foto war Tarver umgeben von ausgemergelten schwarzen Kindern, die die Hände nach ihm ausstreckten, als wäre er ein moderner Albert Schweitzer. Alex studierte die Fotos an der Wand, während Chris den Doktor ausfragte.
»Eine Häufung von Krebsfällen in Natchez, sagten Sie?«, fragte Tarver. »Davon wusste ich nichts. Natchez liegt im Adams County, richtig?«
»Ja. Es geht um Blutkrebs, um genau zu sein«, fügte Chris hinzu. »Viele einheimische Ärzte fragen sich allmählich, ob diese Fälle eine gemeinsame Ursache haben könnten.«
»Eine virale Ätiologie?«
»Wir wissen es nicht. Ich dachte zuerst an übermäßige Strahlenexposition, doch es gelingt uns nicht, eine gemeinsame Quelle festzustellen. Die meisten Patienten arbeiten in verschiedenen Firmen und wohnen in unterschiedlichen Vierteln der Stadt.«
»Was Umwelteinflüsse ebenfalls mehr oder weniger ausschließt«, bemerkte Tarver.
»Ganz recht. Deshalb bin ich auf den Virus-Aspekt gekommen. Ich weiß, dass es verschiedene Formen von Krebs gibt, von denen feststeht, dass sie eine virale Ätiologie haben – oder zumindest einen viralen Mediator.«
»Das trifft bei Tieren viel häufiger zu als bei Menschen. Mir fällt nicht ein einziger Fall ein, wo ein Virus verantwortlich für eine Anhäufung von Krebsfällen gewesen wäre.«
Chris blickte zweifelnd drein. »Aber es gibt doch Gebärmutterkrebs, auf den dies zutrifft? In städtischen Gegenden mit hoher Promiskuität?«
Tarver nickte. »Sicherlich haben Sie recht. Allerdings gibt es dazu noch keine aussagefähigen Studien. Der Prozess viraler Onkogenese ist langwierig. Jahrzehntelang in manchen Fällen. Es ist nicht so, als würde man versuchen, eine Herpes-Epidemie zu verfolgen. Wir könnten mitten in einer Papillomviren-Epidemie sein und würden nichts davon wissen. Sexuelle Promiskuität ist das Beste, was Viren als Organismus je passieren konnte. In darwinistischer Hinsicht, meine ich.«
Alex bewegte sich von Foto zu Foto entlang der Bürowand. Das Muttermal machte es einfach, Dr. Tarver auf den Bildern herauszupicken, selbst in Gruppenaufnahmen. Obwohl es rein technisch betrachtet kein Muttermal war, wie sie sich ins Gedächtnis rief. Es hatte irgendetwas mit missgebildeten Arterien und Venen zu tun. Während sie die Fotos studierte, erinnerte sie sich plötzlich an etwas, das sie an der FBI-Akademie in Quantico gelernt hatte. Viele Serienmörder litten an einer äußerlichen Missbildung, die sie während ihrer Kindheit zu Außenseitern gemacht hatte. Natürlich war es verrückt, Tarver zu verdächtigen, einen Mann, mit dem sie zufällig im Aufzug gefahren war, und doch … er besaß genau die Kenntnisse, die der Mörder für seine Taten benötigte. Und etwas an seiner Ausstrahlung, seine stille Entschlossenheit und logische Präzision verrieten ihr, dass er durchaus zu entschiedenen, möglicherweise extremen Verhaltensweisen imstande war, wohingegen Dr. Pearson sehr viel gemäßigter erschien.
Chris und Tarver unterhielten sich inzwischen in ärztlichem Jargon, irgendein esoterisches Zeug, das ihr zu hoch war. Während Tarver mit seiner Bassstimme erzählte, stach Alex ein bestimmtes Foto ins Auge. Es zeigte Dr. Tarver und einen Mann in Army-Uniform zu beiden Seiten einer wunderschönen blonden Frau. Im Hintergrund stand ein Gebäude, das aussah wie eine Festung; ein Schild über dem Eingang verkündete »VCP«. Auf Tarvers Laborkittel war das gleiche Kürzel zu sehen. Tarver war sehr viel jünger, mit vollem Haar und ohne Bart. Der Offizier erinnerte Alex ein wenig an ihren Vater. Und die Frau erinnerte an eines jener Models, die in Magazinen Werbung für Sprachkurse machten – jene Sorte Frau, die Geschäftsleute glauben ließ, sie könnten in Übersee bei allen Frauen landen, solange sie ein wenig Französisch lernten.
Bei der ersten Pause in der Unterhaltung der beiden Männer fragte sie Tarver: »Was bedeutet VCP?«
»Bitte?«
»VCP. Auf diesem Foto hier tragen Sie einen Kittel mit den Initialen VCP auf der Brusttasche.«
»Oh.« Tarver lächelte. »Das steht für ›Veteran’s Cancer Project^ ein Vorhaben, das die Regierung zusammen mit einigen privaten Investoren finanziert hat, um die Häufung von Krebsfällen bei Kriegsveteranen gegen Ende des Vietnamkrieges zu untersuchen. Aber wir hatten auch viele Veteranen aus dem Zweiten
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