Leises Gift
»Möchtest du es tun, bevor ich nach Hause gehe?«
Rusk dachte über ihr Angebot nach. Janice war älter als seine Frau. Sie mochte vielleicht nicht so schön sein wie Lisa, doch sie war sehr viel geschickter und aktiver im Bett. Es war ein perfektes Arrangement. Janices Ehemann war ein Betriebskalkulator, der sie in den Wahnsinn langweilte, doch er war ein guter Vater, und Janice strebte nicht nach einem höheren gesellschaftlichen Status. Darüber hinaus zahlte Rusk ihr beinahe das Dreifache von dem, was andere Sekretärinnen in der Hauptstadt verdienten.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte sie und betrat das Büro ganz. Sie trug einen Khaki-Rock und eine weiße Leinenbluse, unter der ihr BH durchschimmerte. Auf ihren Waden und Unterarmen spielten die Muskeln, die sie beim Turniertennis und bei besessenen Trainingssitzungen im Kraftraum erworben hatte.
Rusk nickte, doch er wusste, dass er ihr nichts vormachen konnte.
»Ist es dein Vater?«, fragte sie vorsichtig in dem Wissen, dass Rusks Vater ein chronisch schwacher Punkt war.
»Nein. Es ist nur, dass ich im Moment so viel um die Ohren habe.«
Ihr Blick ruhte unverwandt auf ihm, doch sie bedrängte ihn nicht. »Möchtest du, dass ich es dir mit dem Mund mache?«
Rusk studierte ihre Augen, in denen nur Besorgnis zu lesen stand, und schätzte die Wahrscheinlichkeit ab, dass seine Frau am Abend Sex von ihm wollte. Ach, zum Teufel, dachte er. Ich könnte auf dem Heimweg bei einem Autounfall sterben. Er zwang sich zu einem bejahenden Lächeln.
Sie kam heran, kniete vor seinem Sessel nieder und öffnete seinen Reißverschluss. Normalerweise konnte sie ihn schnell zum Höhepunkt bringen, wenn sie wollte, doch heute spürte er, dass es eine Weile dauern würde. Er blickte auf das Foto von Alex Morse, und seine Gedanken begannen zu wandern. Es war der Zeitpunkt, der ihn so fassungslos machte. Er war vierzig Jahre alt, und wenn die Geschäfte so weiterliefen wie bisher, übertraf sein eigenes das Nettovermögen seines Vaters binnen eines Jahres. Andrew Jackson Rusk Senior, von seinen Freunden – darunter eine ganze Reihe ehemaliger Gouverneure – Ajay gerufen, nach seinen Initialen, war fünfundsiebzig Jahre alt und praktizierte noch immer als Anwalt für Zivilklagen. A. J. hatte mit den letzten drei Fällen Millionen verdient und nationales Medieninteresse hervorgerufen. Zwei der Fälle waren in Jefferson County verhandelt worden, wo die rein schwarzen Jurys Vermögen verteilten wie Partygeschenke. Es war schwierig, mit derartigem Spektakel mitzuhalten, wenn man Scheidungen verhandelte – selbst wenn es große waren –, doch Andrew hatte es geschafft. Was gut war, denn sein Vater ließ ihn niemals vergessen, dass sie im Wettbewerb miteinander standen.
»Sei vorsichtig mit deinen Zähnen«, sagte er.
Janice murmelte etwas Unverständliches und bearbeitete ihn emsig weiter.
Rusk Senior hatte sich größte Mühe gegeben, bei seinem Sohn jede Spur von Schwäche, Idealismus und Mitgefühl auszumerzen, und dies war ihm größtenteils auch gelungen. Als Andrew Junior zum ersten Mal in dem Film Der Große Santini das Basketballspiel zwischen Vater und Sohn gesehen hatte – die Szene, in der Robert Duvall seinem Filmsohn den Ball gegen den Kopf wirft –, war ihm der Atem stehen geblieben. Und weil sein eigener Bull Meechum nicht bei einem Flugzeugabsturz gestorben war, hatte der Wettbewerb mit Andrews Erreichen des Erwachsenenalters nicht geendet, sondern war im Gegenteil noch intensiver geworden.
Anstatt der Anwaltskanzlei seines Vaters beizutreten, war Andrew zur Kanzlei des Vaters seiner ersten Frau gegangen – ein Fehler, den sich selbst einzugestehen er mehrere Jahre benötigt hatte. Seine Scheidung von der Tochter des Senior-Partners hatte zugleich seine Verbindung zu der Kanzlei beendet, doch A. J. Senior hatte seinem Sohn keinen Posten angeboten, nachdem er auf der Straße gestanden hatte. Und anstatt in einer weniger bedeutenden Kanzlei anzufangen, hatte Andrew sich selbstständig gemacht und jeden Geld versprechenden Fall übernommen, der durch seine Tür hereinspaziert war. Die meisten hatten sich als Scheidungsfälle erwiesen. Und in diesem Milieu hatte er seine Begabung entdeckt.
In den folgenden Jahren hatte er häufig mit Anwälten aus der Kanzlei seines Vaters vor Gericht zu tun gehabt, und er hatte jeden Prozess gewonnen. Diese Siege waren süß gewesen, doch es war nicht ganz das Gleiche, als würde er seinen alten Herrn persönlich abledern.
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