Leises Gift
Enttäuschung zu verbergen, offensichtlich ohne Erfolg, denn Thora hatte aufgehört, die Pille zu nehmen, und sie hatten sich darauf eingerichtet, die obligatorischen drei Monate zu warten, ehe eine ungefährdete Empfängnis möglich war. Ihr Sex blieb gut, doch die Häufigkeit sank dramatisch. Thora beschwerte sich, dass der Zwang zur Benutzung anderer Verhütungsmittel nach der Bequemlichkeit der Pille eine Last war. Es dauerte nicht lange, und Chris schätzte sich glücklich, wenn sie einmal in der Woche miteinander schliefen. Nach drei Monaten hatten sie jede Form von Verhütung aufgegeben, doch bisher war Thora nicht schwanger geworden. Nicht einmal eine ausgebliebene Periode. Wann immer Chris das Thema zur Sprache brachte, argumentierte sie feinfühlig, dass er sich untersuchen lassen sollte – schließlich bewies Bens Existenz, dass sie Kinder empfangen konnte.
Chris antwortete niemals direkt auf diese Andeutungen, doch er hatte sich untersuchen lassen, beim Dienstleister seiner eigenen Praxis, und das Resultat war eindeutig ausgefallen: hohe Spermienzahl, hohe Beweglichkeit.
Er wünschte, Thora würde aus ihrem Mercedes aussteigen. Mehrere andere Eltern saßen auf Decken oder Campingstühlen auf dem kleinen Hügel neben dem Feld. Nur Thora blieb im Wagen. Es war dieses Verhalten, das einem in einer Kleinstadt rasch den Ruf eines Snobs einbrachte. Die hochnäsige Frau Doktor.
Noch im vergangenen Jahr hätte Chris sich nicht vorstellen können, dass Thora sich so von oben herab zeigte. Sie hätte abwechselnd sämtliche Eltern besucht und dabei den Jungs von der Seitenlinie aufmunternd zugerufen. Aber vielleicht bildete er sich das alles auch nur ein. Wenn ihr danach war, im Wagen sitzen zu bleiben – sollte sie doch! Was konnte es schaden? Für einen Tag im Mai war es heiß; vielleicht genoss sie die Klimaanlage.
»Alex Morse ist verrückt«, murmelte er vor sich hin. Seine Ehe mochte nicht perfekt sein – falls es so etwas wie eine perfekte Ehe überhaupt gab –, doch die Vorstellung, dass seine Frau die Absicht haben könnte, ihn zu ermorden, war dermaßen lächerlich, dass Chris im ersten Moment nicht gewusst hatte, wie er darauf antworten sollte. Es war beinahe so, als würde einem jemand sagen, dass die eigene Mutter versucht, einen umzubringen. Und doch … ganz genau so war es nicht. Es gab keine Blutsbande zwischen Ehemann und -frau. Nicht ohne biologische Kinder. Und aus irgendeinem Grund schaffte Chris es nicht, die Erinnerung an Agentin Morses todernste Augen zu verdrängen.
Sie gehörte eindeutig nicht zu den Menschen, die Zeit damit verschwendeten, Spielchen mit anderen Leuten zu spielen. Die Antwort musste eine andere sein. Beispielsweise psychische Instabilität. Vielleicht war Agentin Morse felsenfest überzeugt von dem absurden Szenario, das sie Chris heute Mittag dargelegt hatte. Angesichts des erst kurze Zeit zurückliegenden Todes ihrer Schwester fiel diese Vorstellung nicht allzu schwer. Während seiner ärztlichen Laufbahn hatte Chris viele extreme Reaktionen auf Trauer erlebt.
Doch was sollte er deswegen unternehmen? Beim FBI-Büro in Jackson anrufen und Morses Besuch melden? Seinen Anwalt informieren? Die FBI-Zentrale in Washington? Oder sollte er sich diskret bemühen, weitere Informationen einzuholen?
Seine Sprechstundenhilfe hatte nach einigem Suchen die Telefonnummer von Darryl Foster gefunden, einem alten Kameraden aus der Studentenverbindung, doch er hatte nur einen Anrufbeantworter erwischt. Er hatte gehofft, dass Foster – ein aktiver Außenagent beim FBI – ein wenig Licht auf die mysteriöse Alex Morse und ihre Behauptungen werfen konnte, ehe er Thora gegenübertrat, doch das Mobiltelefon in Chris’ Tasche war bis jetzt stumm geblieben. Bevor er nicht mehr wusste, würde er Thora auf gar keinen Fall merken lassen, dass etwas nicht stimmte. Nicht, dass er auch nur ein Wort von dem glaubte, was Morse ihm erzählt hatte, doch falls er Thora von den Ereignissen des frühen Nachmittags berichtete, würde ihre erste Frage lauten: Bei wem hast du dich über diese Person beschwert? Wo hast du sie gemeldet? Und was wollte er darauf antworten? Vielleicht, dass er insgeheim doch Zweifel an ihr hatte?
»Schlägst du jetzt endlich einen Ball, Coach, oder was?«
Chris kehrte blinzelnd in die Wirklichkeit zurück, stieß ein verlegenes Lachen aus und schlug einen Ball. Dabei bemerkte er aus den Augenwinkeln eine Bewegung zur Rechten. Thora stand in der offenen Tür ihres
Weitere Kostenlose Bücher