Leises Gift
Namen zu benennen vermochte, doch so sah es nun einmal aus.
Rusk wusste, dass er einen Fehler gemacht hatte, indem er den Fennell-Fall übernahm. Die Schwester der Zielperson war eine FBI-Agentin, und ihr Vater war Cop bei der Mordkommission gewesen. Rusk hatte den Auftrag ablehnen wollen, doch dann hatte er ihn trotzdem gegenüber Glykon erwähnt in der Annahme, sein paranoider Partner würde ihn geradewegs von sich weisen. Zu seiner Überraschung jedoch hatte Glykon die Verbindung zum FBI als Herausforderung betrachtet. Als Bill Fennell dann auch noch einen Bonus von fünfzig Prozent angeboten hatte – fünfzig Prozent –, hatte Rusk nachgegeben. Was hätte er sonst tun sollen? Wie Oskar Wilde einmal gesagt hatte: Der einzige Weg, sich einer Versuchung zu entledigen, bestand darin, ihr nachzugeben.
Mit dem Ergebnis, dass Spezialagentin Alex Morse jetzt in seinem Leben herumschnüffelte. Irgendwie hatte sie sich an ihn geheftet wie ein verdammter Schildfisch an einen Hai. Er hatte geglaubt, dass sie nach einer Weile wieder aufgeben würde, doch bisher war das nicht geschehen. Sie war hartnäckig. Und diese Art von Hartnäckigkeit führte nur zu einem Ende.
Rusk war sicher, dass Morse in sein Büro eingebrochen war. Er hatte es nicht gemeldet, selbstverständlich nicht – weder der Polizei noch Glykon. Er hatte lediglich dafür Sorge getragen, dass sie es nicht noch einmal würde tun können. Doch das war, als hätte er das sprichwörtliche Scheunentor geschlossen, nachdem das Pferd weggelaufen war.
Was hatte Morse in seinem Büro gefunden? Es gab keine offensichtlichen Beweise, die sie hätte entdecken können. Die Daten auf Rusks Festplatte waren verschlüsselt (Daten auf der Festplatte stellten selbst in verschlüsselter Form einen Verstoß gegen Glykons Regeln dar), doch Rusk hatte so ein Gefühl, als würde Morse sich sehr gut mit Computern auskennen. Und mit Geschäftsaufzeichnungen gleichermaßen. Seine diskreten Nachforschungen bezüglich ihrer Biographie hatten einen Abschluss in Jura an der Tulane zu Tage gefördert sowie ein Jahr in Florida, wo sie für eine gemeinsame Sondereinheit des FBI und der Drogenfahndung gearbeitet hatte. Die nahezu perfekte Vorbereitung, um zumindest eine Seite seiner Operationen aufzudecken. Darüber hinaus hatte Morse fünf Jahre als Geisel-Unterhändlerin für das FBI gearbeitet, was für Rusk eine Überraschung gewesen war – bis seine Quelle ihn darüber informiert hatte, dass es beim FBI mehr weibliche als männliche Unterhändler gab. Es schien, als wären Frauen tüchtiger als Männer, wenn es darum ging, friedliche Lösungen für einen Konflikt zu finden. Was für eine Überraschung! Als erfahrener Scheidungsanwalt hatte Rusk mehr als eine Frau mit den Instinkten eines Raubsauriers kennen gelernt – Frauen, die so bösartig waren, dass sie Machiavelli Nachhilfeunterricht hätten geben können, was das Intrigieren und das Provozieren von Kriegen angeht.
Trotz eines vielversprechenden Starts hatte Alex Morse sich letztlich als ungeeignet erwiesen für die Arbeit als Geisel-Unterhändlerin. Der Tod ihres Vaters und die Krebserkrankung ihrer Mutter hatten allem Anschein nach dazu geführt, dass sie ihre Urteilskraft verloren hatte, und deswegen war jemand gestorben. Beinahe wäre sie selbst gestorben, dachte Rusk wehmütig. Ihr vernarbtes Gesicht trug die unübersehbaren Beweise für ihre Begegnung mit dem Tod. Doch worauf es ankam war, dass sie ihre professionelle Zurückhaltung aufgegeben und ihren Emotionen freien Lauf gelassen hatte. Sie hatte rein instinktiv reagiert, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen, und dieser bestürzende Zwischenfall durfte nicht ignoriert werden.
Glykon musste von Alex Morse erfahren.
Und Alex Morse war nicht ihr einziges Problem. Interne Bedrohungen waren stets weitaus gefährlicher als die von außen, und gerade jetzt tickte eine Atombombe unter ihrer Partnerschaft. »Ein Klient!«, murmelte Rusk ungläubig, während er einen weiteren Schluck aus seinem Tumbler nahm. »Ein verdammter Klient, der verrücktspielt!«
Er zuckte zusammen, als er die Tür hörte, die sich gerade weit genug geöffnet hatte, damit seine Sekretärin den Kopf ins Zimmer stecken konnte. Es war erst Mitte Mai, doch Janice war bereits tiefbraun, was sie mehr nach dreißig als nach ihren fünfunddreißig Jahren aussehen ließ. Sie begegnete Rusks Blick mit völliger Offenheit – dem Blick einer intimen Vertrauten.
»Es sind fast alle gegangen«, sagte sie.
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