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Leises Gift

Leises Gift

Titel: Leises Gift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Iles
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bereut, dass sie Jamie zurückgebracht hatte. Doch sie besaß auch genügend Erfahrung, um zu wissen, dass eine erfolgreiche Entführung mit dem Ziel der Erlangung des Sorgerechts sorgfältige Planung und Vorbereitung erforderte. In den fünf Wochen seit jenem Tag hatte sie in der Tat Schritte in dieser Richtung unternommen. Und falls ihre Bemühungen, Bills Komplizenschaft an Graces Ermordung nachzuweisen, fehlschlagen sollten – was ohne die Hilfe Dr. Shepards sehr wahrscheinlich war –, war sie bereit, drastische Maßnahmen zu ergreifen.
    Auf einer niedrigen Anrichte neben dem Schreibtisch lagen mehrere saubere Stapel Papier, die alle mit der medizinischen Geschichte ihrer Mutter zu tun hatten. Es gab eine Liste mit oral einzunehmenden Medikamenten und chemotherapeutischen Mitteln, Behandlungspläne, Rechnungen, die von der Krankenversicherung bezahlt werden mussten, private Zusatzrechnungen von Ärzten, die die Versicherung nicht abdeckte, Testergebnisse von der Uniklinik und vom Labor des privaten Onkologen und natürlich die Korrespondenz zwischen Grace und verschiedenen Krebsspezialisten überall auf der Welt. Grace hatte sich mit der Krebserkrankung ihrer Mutter auseinandergesetzt wie mit allen anderen Krisen in ihrem Leben: Sie hatte der Krankheit den Krieg erklärt. Diesen Krieg hatte sie mit der unerbittlichen Beharrlichkeit geführt, mit der General Sherman sich im Bürgerkrieg seinen Weg durch den Süden gebrannt hatte. Wehe dem Versicherungsangestellten, der auf einer Rechnung an die Adresse von Margaret Morse einen Fehler machte – Graces Vergeltung war schnell und gnadenlos. Doch jetzt war die Kriegführung an Alex übergegangen, und nach Graces Standards leistete Alex mehr als bescheidene Arbeit.
    Ihre Kardinalsünde? Sie war nicht am Krankenbett ihrer Mutter. Stattdessen hatte sie sich hundert Kilometer südlich einquartiert, in Natchez, Mississippi, während bezahlte Pfleger – Fremde! – sich in Jackson um ihre Mutter kümmerten. Und was machte sie in Natchez? Nichts als die Ersparnisse ihres Lebens zu verbrennen und ihre Karriere zu riskieren in einem wahrscheinlich vergeblichen Versuch, den Mörder ihrer Schwester zu bestrafen. Grace hätte ihr eine Menge dazu gesagt.
    Auf der anderen Seite war es Grace gewesen, die Alex den Auftrag gegeben hatte, Jamie vor seinem Vater zu »retten«. Und da Bill Fennell das gesetzliche Sorgerecht über seinen Sohn besaß, gab es in Alex’ Augen nur einen möglichen Weg, Jamie aus den Klauen seines Vaters zu befreien: Sie musste nachweisen, dass sein Vater der Mörder seiner Mutter war.
    Alex ging zu dem übergroßen Kartentisch, den sie bei Wal-Mart erstanden hatte, um ihre Fallmaterialien darauf auszubreiten. Der Tisch war das Nervenzentrum ihrer Operation. Das Material darauf war viel primitives Zeug – hastig hingekritzelte Notizen, Überwachungsaufzeichnungen, digitale Schnappschüsse, Minikassetten –, doch sämtliche Computer auf der Welt konnten keinen Killer festnageln, wenn man sein Büro niemals verließ.
    Alex hatte ein gerahmtes Foto ihres Vaters auf dem Kartentisch stehen – ihr Schutzheiliger aller Cold Cases, aller »unlösbaren« Fälle. Es war genaugenommen kein Foto, sondern ein Zeitungsartikel, der zwei Schnappschüsse von Jim Morse beinhaltete: einen als frisch gebackenen Streifenpolizisten im Jahre 1968 und einen als müden, doch entschlossen dreinblickenden Mordermittler, der in Jackson im Jahre 1980 einen Aufsehen erregenden Fall gelöst hatte.
    Ihr Vater war nach zwei Dienstzeiten in Vietnam gleich von der Army zur Polizei von Mississippi gegangen. Er hatte Kampfeinsätze erlebt, doch er hatte nie darüber gesprochen und nicht unter bleibenden Problemen gelitten, soviel Alex wusste. Doch als Militärpolizist in Saigon war Jim Morse gleich in mehrere Mordfälle verwickelt worden. Die Arbeit hatte nachhaltigen Eindruck bei ihm hinterlassen, und so hatte er sich an seinem einundzwanzigsten Geburtstag, als er nicht so recht wusste, was er in Zukunft tun wollte, bei der Police Academy in Jackson eingeschrieben. Er war ein guter Streifenpolizist und wurde schneller als jeder andere aus seiner Klasse zum Sergeant befördert. Mit siebenundzwanzig bestand er die Prüfung zum Detective und machte sich bald einen Namen für brillante Arbeit als Ermittler und unumwundene Offenheit, ganz gleich, mit wem er es zu tun hatte. Seine Tüchtigkeit hätte eine schnelle Beförderung bewirkt, wäre seine Offenheit nicht so ausgeprägt gewesen. Alex

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