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Leises Gift

Leises Gift

Titel: Leises Gift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Iles
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hatte ihr Leben lang gegen die von ihrem Vater geerbte Neigung angekämpft und zumeist Erfolg gehabt. Doch ihr Vater hatte während des größten Teils seiner Laufbahn zugesehen, wie Männer mit sehr viel weniger Talent und Erfolg ihn auf der Karriereleiter überholt hatten.
    Nach seiner Pensionierung hatte Jim Morse eine Detektei eröffnet – zusammen mit einem ehemaligen Partner, der zu Beginn seiner Karriere sein Mentor gewesen war, ein erfahrener alter Bursche namens Will Kilmer. Die Freiheit, die eine private Agentur mit sich brachte, war beiden Männern mehr als recht gewesen, doch sie hatten alle Hände voll zu tun gehabt. Alex war sicher, dass es die abwechslungsreichen Fälle gewesen waren, die sie in ihrer Jugend erlebt hatte, die sie dazu gebracht hatten, sämtliche anderen Angebote nach dem Jurastudium abzulehnen und sich an der FBI-Akademie anzumelden. Ihr Vater hatte ihre Berufswahl begrüßt, doch ihre Mutter, Margaret, hatte reagiert wie immer, wenn Alex vom Pfad der konventionellen Südstaatenfrauen abgewichen war: mit stillschweigendem Tadel.
    Trauer erfasste Alex. Schuldgefühle überkamen sie. Um sich abzulenken, blickte sie auf Dutzende von Schnappschüssen von Chris und Thora Shepard, die vor ihr auf dem Tisch lagen. Auf einigen Bildern waren die beiden zusammen zu sehen. Alex war ihnen lange genug gefolgt, um ein Bild von einem typischen Paar der gehobenen Mittelschicht zu gewinnen, gepeinigt von den Erfordernissen des täglichen Lebens und immer wenigstens einen Schritt hinterherhinkend. Chris verbrachte den größten Teil seiner Zeit mit Arbeit, während Thora ihre Stunden abwechselnd zwischen energischem Training und persönlichem Verwöhnen aufteilte. Alex wusste nicht genau, wie weit dieses Verwöhnen ging, doch sie hatte ihre Vermutungen. Sie besaß außerdem eine Reihe von Notizen und Fotos, die Dr. Shepard sicher gerne gesehen hätte, sobald er über den ersten Schock nach ihrem heutigen Zusammentreffen hinweg war. Doch so weit war es noch nicht.
    Alex spürte eine unbestimmte Abneigung, als sie die Bilder von Thora betrachtete: Sie sah nach einem Zehn-Kilometer-Lauf besser aus als die meisten Frauen, nachdem sie sich zwei Stunden lang für eine Party aufgeputzt hatten. Allein dafür musste man sie ein wenig hassen. Chris auf der anderen Seite war mehr ein bodenständiger, dunkelhaariger Henry-Fonda-Typ als ein Schönling. Ein wenig muskulöser als Henry Fonda vielleicht, doch mit der gleichen Gemessenheit und Würde.
    Zwischen den Bildern von Chris und Thora Shepard befanden sich auch ein paar, die Chris und Ben zeigten, alle geschossen auf dem freien Stück Land, wo Chris die Baseballmannschaft trainierte, zu der auch Ben gehörte. Ben Shepard war nur ein Jahr jünger als Jamie, und seine Augen zeigten ein wenig von der gleichen Unsicherheit. Vielleicht ist es nur das Alter, überlegte Alex. Oder vielleicht spüren Kinder, wenn im Herzen ihrer Familien etwas nicht stimmt.
    Der bloße Gedanke an Jamies Los regte Alex üblicherweise so sehr auf, dass sie nicht mehr klar denken konnte. Sie schaltete den Fernseher ein, damit das Zimmer nicht so einsam war; dann drehte sie das Wasser so heiß, wie sie es aushielt, tränkte einen Waschlappen, legte sich aufs Bett und rieb sich das Gesicht. Die Wärme durchdrang ihre Haut und sandte ein Gefühl der Erleichterung durch ihren Körper. Während der Stress von ihr abfiel, kehrten ihre Gedanken zu Chris Shepard zurück. Das Treffen war weitaus besser verlaufen, als sie erwartet hatte … es sei denn, Shepard hatte bereits im FBI-Büro Jackson angerufen und sich dort über sie beschwert.
    Wie viele Menschen würden mit Gleichmut auf die Art von Anschuldigungen reagieren, die sie heute erhoben hatte? Auf das Wesentliche zusammengefasst lautete ihre Botschaft: Ich glaube, Ihre Frau will Sie ermorden. Falls Shepard sich beschwert hatte, würde sie, Alex, schon bald einen Anruf aus Washington erhalten. Wie jede erfolgreiche Agentin hatte Alex sich Feinde beim FBI gemacht, und ihre Feinde waren in hohen Positionen. Einer hätte es beinahe geschafft, nach James Broadbents Tod ihre Entlassung zu erreichen, doch er war schließlich gezwungen gewesen, sich mit ihrer Verbannung nach Charlotte zufriedenzugeben. Falls er den Verdacht gewann, dass Alex ihre Pflicht dort vernachlässigte, musste sie damit rechnen, zur Zentrale gerufen zu werden, um sich einer ausgiebigen Befragung durch die Dienstaufsicht zu unterziehen. Selbst eine oberflächliche

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