Leises Gift
loggte sich bei MSN ein und überprüfte ihre Kontaktliste, um zu sehen, ob Jamie online war, doch das Symbol neben seinem Bildschirmnamen – Ironman QB – war rot, nicht grün. Das beunruhigte sie zunächst nicht weiter. Ihr nächtliches Webcam-Ritual fand üblicherweise später statt, nachdem Bill zu Bett gegangen war. Jamie mochte erst zehn Jahre alt sein, doch er war sehr talentiert, was Computer anging. Und weil Taschengeld eines der wenigen Dinge war, in denen Bill sich großzügig zeigte – um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen, wie Alex wusste –, hatte Jamie sich eine Webcam kaufen können, die es ihm erlaubte, eine Videoverbindung zu Alex herzustellen, sobald beide bei MSN eingeloggt waren. Heimliche Kommunikation mit einem Zehnjährigen mochte in ethischer Hinsicht fragwürdig erscheinen, doch Alex ging davon aus, dass es neben vorsätzlichem Mord verblasste. Und da Grace sie beauftragt hatte, Jamie zu schützen, hielt Alex es für gerechtfertigt, den Kontakt zu dem Jungen auf jede nur erdenkliche Weise aufrechtzuerhalten.
Sie blieb bei MSN eingeloggt, als sie aufstand, ihr Mobiltelefon aus der Handtasche holte und die Nummer ihrer Mutter wählte. Eine Pflegerin meldete sich.
»Ich bin es, Alex. Ist sie wach?«
»Nein, sie schläft. Sie ist wieder an der Morphiumpumpe.«
O Gott. »Wie geht es ihr, abgesehen von den Schmerzen?«
»Keine Veränderung, leider. Nicht physisch. Emotional allerdings …« Die Schwester brach ab.
»Was ist emotional?«
»Sie scheint sehr bedrückt.«
Natürlich ist sie bedrückt. Sie stirbt, und sie ist ganz allein. »Sagen Sie ihr, dass ich später wieder anrufe«, flüsterte Alex.
»Sie hat gesagt, Sie kämen bald nach Mississippi zurück.«
Ich bin schon in Mississippi. Alex schloss die Augen wegen der Schuldgefühle, die die Notlüge hervorbrachte. »Das wäre gut möglich, aber im Augenblick hänge ich noch in Charlotte fest. Untersuchen die Ärzte sie regelmäßig?«
»Ja, Ma’am.«
»Bitte rufen Sie mich sofort an, wenn es eine Veränderung gibt.«
»Ich sorge dafür, dass Sie informiert werden.«
»Ich danke Ihnen. Auf Wiederhören.«
Alex schob ihre Glock in den Hosenbund und schlug den Hemdensaum darüber. Dann nahm sie Meggie auf und ging mit der Katze im Arm nach draußen. Zimmer 125 war beim Pool, der zu dieser Stunde verlassen dalag. Ihr war danach, ein paar Runden zu schwimmen, doch sie hatte keinen Badeanzug eingepackt und auch nicht daran gedacht, einen zu kaufen, als sie bei Wal-Mart gewesen war. Das Empfangsgebäude des Days Inn war einem Herrenhaus nachempfunden – eine Imitation der wichtigsten Touristenattraktionen von Natchez. Hinter der Lobby und einer einstöckigen Reihe von Zimmern lag unter einem Rechteck aus Eichen ein alter Tennisplatz. Alex kraulte die Katze hinter den Ohren und ging los.
Ursprünglich hatte sie vorgehabt, im Stadtzentrum im Eola Hotel abzusteigen, das sie von einem Besuch aus Kindertagen kannte, doch sie hatte festgestellt, dass sie sich die Preise nicht leisten konnte. Das Days Inn kostete neunundfünfzig Mäuse pro Tag – einschließlich Katze. Der Parkplatz lag direkt am Highway 61. Fuhr man nach links, war man auf dem Weg in Richtung New Orleans, fuhr man nach rechts: Chicago. Jetzt leide ich schon unter Verfolgungswahn, dachte Alex. Reiß dich zusammen!
Sie betrat die gesprungene grüne Oberfläche des alten Tennisplatzes und atmete die Luft in tiefen Zügen ein. Es roch nach einem Potpourri aus üppigem Grün: Laubbäume, Nadelhölzer und Kudzu, durchsetzt mit Azaleen, Oliven und Geißblatt. Und es roch nach Wasser, nach richtigem, fließendem Wasser, nicht dem steril gechlorten Pool oben beim Motel. Irgendwo ganz in der Nähe wand sich ein Bach durch die bewaldete Stadt in Richtung des mächtigen Mississippi, der keine zwei Kilometer im Westen floss.
Alex war erst dreimal in Natchez gewesen, doch sie wusste eines mit Bestimmtheit: Die Stadt unterschied sich von allen anderen in den Vereinigten Staaten. Die meisten Amerikaner betrachteten Mississippi als etwas Einzigartiges, doch Natchez war selbst für Mississippi außergewöhnlich. Eine arrogante Stadt, ohne jeden Zweifel, auch wenn ein gewisses Maß an Arroganz gerechtfertigt sein mochte, insbesondere, was die Vergangenheit betraf. Natchez war die älteste Stadt am Mississippi und von großem Wohlstand gewesen. Unter der wechselnden Herrschaft Englands, Frankreichs und Spaniens hatte die Stadt die jeweiligen Stile, die Etikette und Architektur
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