Leises Gift
teilte er eine Menge von Toms Ansichten über die moderne Medizin. Seine eigenen Vorstellungen vom Arztberuf hatten ihn seine erste Ehe gekostet, und seither war er vorsichtig gewesen, was Liebesdinge anging. Erst als Thora Rayner in sein Leben getreten war, hatte er sich mutig genug gefühlt, erneut ein solches Risiko einzugehen. Allein aus diesem Grund hatte Alex Morses Besuch ihn stärker verunsichert, als es irgendeinen anderen Mann verunsichert hätte. Chris hatte seine erste Frau grundlegend falsch eingeschätzt, und einräumen zu müssen, dass er den gleichen Fehler bei seiner zweiten Frau erneut gemacht hatte, würde verdammt hart werden.
Und in diesem Sinne waren die nagenden Gedanken, die ihm während des Baseball-Trainings durch den Kopf gegangen waren, nichts weiter gewesen als belanglose Ärgernisse. Kleinigkeiten. Jeder Erwachsene durchlief Veränderungen seiner Persönlichkeit, und das erste Jahr einer Ehe war stets eine Phase der Anpassung. Dass Thora angefangen hatte, mehr Geld als früher auszugeben, oder dass sie engere Kleidung trug, hatte im Großen und Ganzen überhaupt nichts zu bedeuten. Rein gar nichts.
Chris öffnete die Tür des Studio-Kühlschranks und schenkte sich ein Glas nahezu gefrorenen Grey Goose ein, das er in einem Zug hinunterkippte. Dann setzte er sich vor seinen G5, startete Final Cut Pro und machte sich daran, einige Einstellungen zu betrachten, die er vergangene Woche gefilmt hatte. Da er mit seiner Canon XL2S direkt auf Festplatten aufnahm, musste er keine Zeit damit verschwenden, Material von Bändern auf den Computer zu überspielen.
Vor ihm auf dem Bildschirm entwickelte sich ein Gespräch zwischen Dr. Tom Cage und einer dunkelhäutigen Frau, die seit 1963 seine Patientin war. Die Frau besaß inzwischen eine Ururenkelin, und das kleine Mädchen spielte zu ihren Füßen. Dr. Cage zog es heutzutage vor, keine Kleinkinder mehr zu behandeln, doch diese Frau hatte sich schlichtweg geweigert, ihre »Enkelin« zu irgendeinem anderen Arzt zu bringen. Chris hatte mehr Erfahrung mit moderner Kinderheilkunde als Tom Cage, und er war stolz gewesen, dass er dem alten Arzt helfen durfte, das hohe Fieber zu bewerten (von dem Cage befürchtet hatte, es könnte von einer Meningitis herrühren).
Während die alte Frau erzählte, wie Dr. Cage in jener denkwürdigen Nacht im Jahre 1963 mitten in einem Blizzard zu ihr nach Hause gekommen war, spürte Chris eine ungewohnte Woge von Emotionen. Bis zu diesem Morgen, als Agentin Morse subversiv in sein Leben eingedrungen war, war er zufriedener mit seinem Leben gewesen als jemals zuvor seit seiner Kindheit. Sein Vater war ein guter Mensch gewesen, doch er hatte nur selten über die tieferen Geheimnisse des Lebens nachgedacht. In Tom Cage hatte Chris einen Mentor gefunden, einen schier unerschöpflichen Quell von Weisheit und Wissen, der beides ohne jede Arroganz und Lehrerhaftigkeit weitergab, fast wie einer der alten Zen-Meister. Eine energische Frage hier, eine kleine Geste dort, während die Aufmerksamkeit eines Patienten abgelenkt war – auf seine bescheidene Weise half Tom, dass sein Partner mehr wurde als nur ein erstklassiger Internist. Er machte ihn zu einem Heiler.
Aber kein Mann kann nur für seinen Beruf alleine leben, dachte Chris und spürte, wie der Alkohol die Blut-Hirn-Schranke überwand. Nicht einmal dann, wenn er voller Leidenschaft ist. Ein Mann braucht jemanden, mit dem er seine tiefsten Emotionen teilen kann. Jemanden, der ihm hilft, seine Triebe auszuleben, seine Obsessionen zu lindern. Und vielleicht am wichtigsten von allem: Er braucht jemanden, der bei ihm ist in all den tausend kleinen Augenblicken, die in ihrer Gesamtheit ein Leben ausmachen.
Beinahe zwei Jahre lang hatte Chris geglaubt, dass Thora diese Person war. Zusammen mit Ben hatte sie einen magischen Zirkel in seinem Leben geschlossen. Bevor er Thora geheiratet hatte, war Chris nicht bewusst gewesen, wie sehr die Rolle des Vaters ihn beeinflussen würde. Doch in weniger als einem Jahr war Ben unter Chris’ geduldiger Aufmerksamkeit zu einem Jungen herangereift, der seine Lehrer mit seiner inneren Einstellung und seinen Leistungen verblüffte. Darüber hinaus war er ein Ass im Schulsport. Der Stolz, den Chris über seinen Ziehsohn empfand, war atemberaubend, und es war ihm wie eine feierliche Verpflichtung, ja, ein Privileg erschienen, den Jungen zu adoptieren.
Angesichts dessen, was er für Ben empfand, vermochte Chris sich kaum vorzustellen, was ein
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