Leises Gift
nur, was sie sehen wollten, und auch nur dann, wenn sie bereit dazu waren. Die Wahrheit mochte für andere schmerzvoll offensichtlich sein, doch für einen Liebenden war alles verschleiert. Durch Hoffnung, Angst und von allem durch Vertrauen. Alex’ Vater hatte sich die größte Mühe gegeben, seiner Tochter diese Lektion beizubringen, und doch waren persönliche, schmerzhafte Erfahrungen notwendig gewesen, um die Wahrheit in sie hinein zu ätzen.
Vertrau nur deinem eigenen Blut.
Sie hob Meggie hoch und kehrte mir ihr ins Motelzimmer zurück. Ein paar Kilometer weiter im Süden lag in diesem Augenblick Chris Shepard wahrscheinlich hellwach in seinem Bett und fragte sich, ob er die Frau neben sich jemals wirklich gekannt hatte. Alex bedauerte, dass sie seine Welt auf den Kopf stellen musste, doch ihr blieb keine andere Wahl. Wenn sie Shepard der Gnade seiner Frau überließ, würde er den Monat wahrscheinlich nicht überleben.
Als sie die Hand nach dem Türknauf ausstreckte, wurde ihr bewusst, dass sie eine Entscheidung gefällt hatte, was die Wohnung in Charlotte anging.
»Sayonara«, sagte sie leise.
Sie verriegelte die Tür hinter sich und setzte sich an ihren Computer. Jamie war immer noch nicht online. Sie blickte auf die Uhr – 23.25 Uhr. Mit einem Mal zog ihre Brust sich zusammen, als atmete sie giftige Dämpfe ein. Sie brauchte dringend Schlaf, doch sie würde warten, bis Jamies Bildschirmsymbol grün aufleuchtete, egal wie lange es dauerte. Sie rieb sich die Augen, angelte sich einen Energy Drink aus ihrer Kühlbox, lehnte sich zurück und leerte die halbe Dose in wenigen Schlucken. Bis sie rülpsen musste, spürte sie bereits den Schub des Koffeins, das ihre Schleimhäute absorbiert hatten.
»Komm schon, Baby«, murmelte sie. »Mach endlich. Sprich mit Tante Alex.«
Doch Jamies Symbol blieb rot.
6
Chris war nie ein guter Lügner gewesen, genauso wenig wie sein Vater. Buddy Shepard hatte nicht viel Geld verdient, doch er hatte Respekt genossen, wo immer er gearbeitet hatte, und er hatte seine Integrität an seinen Sohn weitergegeben. Es war nicht einfach, wie Chris festgestellt hatte, Integrität in einer Welt zu wahren, die nach den Gesetzen der menschlichen Natur agierte.
Auf dem dunklen Pfad zwischen seinem Haus und der umgebauten Scheune dahinter war er nicht einmal mehr sicher, was richtig war und was nicht. Sein Schritt war schwer, und er empfand keine Freude an seiner Umgebung, die sonst stets ein Quell des Stolzes gewesen war. Als er nach Natchez gezogen war, hatte er einen großen Teil seiner Ersparnisse ausgegeben, um ein großes Haus auf einem acht Hektar großen Gelände der früheren Elgin-Plantage zu erwerben – ein Anwesen im Süden der Stadt, das bis vor den Bürgerkrieg zurückreichte. Trotz der isolierten Lage war das Haus nur fünf Minuten von Bens Schule entfernt und weniger als zehn Minuten von beiden Krankenhäusern in Natchez. Chris sah nicht, wie man das noch hätte verbessern können, doch Thora wollte schon seit langem nach Avalon ziehen, in einen schicken neuen Vorort, der noch weiter im Süden entstand. Red Simmons hatte diesem Wunsch stets widerstanden, doch nach mehrmonatigen Diskussionen hatte Chris schließlich nachgegeben. Er hatte einräumen müssen, dass Ben in der neuen Nachbarschaft wohl mehr Freunde haben würde.
Das Haus in Avalon – er nannte es bei sich »McMansion« – war zu zwei Dritteln fertig. Thora überwachte persönlich die Arbeiten, doch Chris ließ sich nur selten auf der Baustelle blicken. Er war in einer Reihe ländlicher Gemeinden aufgewachsen (sein Vater hatte für International Paper gearbeitet und war alle paar Jahre versetzt worden), und er war überzeugt, dass seine Kindheit auf dem Land eine große Rolle dabei gespielt hatte, seine heutige Eigenständigkeit zu schmieden. Er wusste, dass Ben von einer ähnlichen Umgebung profitieren würde, und aus diesem Grund hatte er beschlossen, sein Land nicht zu verkaufen, wenn sie schließlich nach Avalon zogen.
Vor ihm tauchte ein großes Gebäude in der Dunkelheit auf, dessen rustikales Äußeres seinen wahren Zweck perfekt verschleierte. Chris hatte die Scheune selbst umgebaut und sich hier ein Videoproduktionsstudio eingerichtet, um seiner Leidenschaft nachzugehen – seinem »Kamera-Hobby«, wie Thora es nannte, was ihn mehr störte, als er zuzugeben bereit war. Er sperrte die Tür auf und betrat den Produktionsraum, ein Paradies aus hellem Ahorn und Glas, makellos sauber und um der
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