Leises Gift
Kameras, der Computer und der anderen Ausrüstung willen konstant temperiert bei dreizehn Grad Celsius. Allein das Betreten des Raums ließ seine Stimmung steigen. Das Booten seines Apple G5 trug noch mehr zur sich bessernden Laune bei. In diesem Raum konnte Chris die tausend Belästigungen des Alltags endlich hinter sich lassen. Hier in diesem Raum hatte er die Kontrolle über das, was er tat. Und tief im Innern hatte er das Gefühl, dass er etwas Großartiges erschuf.
Chris hatte während der College-Zeit mit dem Filmemachen angefangen und an mehreren Dokumentationen gearbeitet, von denen zwei mit nationalen Preisen ausgezeichnet worden waren. Während seines Medizinstudiums hatte er eine weitere Dokumentation produziert mit dem Titel Ein Tag im Leben eines Arztes im Praktikum. Gedreht mit einer versteckten Kamera, hatte dieses digitale Video seine Laufbahn als Mediziner fast beendet, ehe sie richtig angefangen hatte. Doch nachdem ein Kommilitone das Material an eine nationale Nachrichtenstation geschickt hatte, wo es ausgestrahlt worden war, hatte es einen großen Teil dazu beigetragen, dass die Arbeitsstunden der jungen Ärzte im Praktikum begrenzt worden waren.
Leider hatte Chris feststellen müssen, dass er kaum noch Zeit fand, irgendetwas zu filmen, nachdem er seine eigene Praxis eröffnet hatte. Die Arbeit bot viele Belohnungen, doch Freizeit gehörte nicht dazu.
Letztes Jahr jedoch hatte er sich mit Dr. Tom Cage, einem alteingesessenen Arzt für Allgemeinmedizin, in einer Gemeinschaftspraxis zusammengetan und nebenbei einen Weg gefunden, wie er seinen Beruf und seine Leidenschaft miteinander verbinden konnte. Nach genauer Beobachtung seines neuen Partners begann Chris mit der Arbeit an einer Dokumentation über den Niedergang der traditionellen Primärversorgungsmedizin. Der Bundesstaat Mississippi, in den allermeisten Dingen zehn Jahre hinter dem Rest des Landes zurück, erwies sich als der ideale Ort für dieses Vorhaben.
Tom Cage war einer jener Ärzte, die eine ganze Stunde damit verbrachten, einem Patienten zuzuhören – falls ein verständnisvolles Ohr das war, was der Patient am meisten benötigte. Tom war dreiundsiebzig Jahre alt und litt gleich an mehreren chronischen Erkrankungen; wie er selbst oft einräumte, war er kranker als die meisten seiner Patienten. Doch er arbeitete noch immer achtzig Stunden in der Woche, und wenn er nicht arbeitete, las er Fachzeitschriften, um auf der Höhe der Zeit zu bleiben, was die ärztliche Versorgung betraf. Dr. Cage betastete seine Patienten häufig während einer Untersuchung, und er achtete sehr genau auf das, was er fühlte. Wichtiger noch, er befragte seine Patienten eingehend – nicht nur über ihre spezifischen Symptome, sondern auch über andere Lebensbereiche, die Hinweise auf den allgemeinen Gesundheitszustand zu geben vermochten. Er berechnete sein Honorar so, dass er seine Patienten nicht arm machte (und war daher selbst nicht reich), und er dachte niemals schon an die Dutzende von Patienten in seinem Wartezimmer – die meisten ohne Termin –, solange er noch mit einem anderen Patienten zu tun hatte. Tom Cage blieb in seiner Praxis, bis der letzte Patient bei ihm gewesen war, und erst dann – und nur dann – erklärte er sein Tagwerk für getan.
Für Chris, der seine praktischen Erfahrungen zusammen mit einer Gruppe von Internisten seines Alters gesammelt hatte, war die Arbeitseinstellung von Dr. Cage ein gründlicher Schock gewesen. Für Ärzte aus Chris’ Generation bedeutete eine gute Praxis hohes Einkommen, kurze Arbeitszeiten und eine Vielzahl an Partnern, auf die Patienten zurückgreifen konnten, sodass man sich höchstens eine Nacht pro Woche mit Anrufern herumschlagen musste. Chris’ frühere Partner praktizierten eine defensive Medizin und ließen jeden Labortest durchführen, der auch nur entfernt relevant war für die Symptome eines Patienten. Zugleich verbrachten sie so wenig Zeit wie nur möglich mit den Patienten, alles im Namen der Einkommens-Maximierung. Diese Art der Berufsausübung war für Dr. Cage ein Gräuel. Ein System, das auf die Bequemlichkeit und den Gewinn der Ärzte zugeschnitten war, war für ihn wie ein Schwanz, der mit dem Hund wackelte. In den Augen von Dr. Cage war ein Arzt ein Diener am Patienten. Es mochte ein angesehener Beruf sein, kein Zweifel, doch es war nichtsdestotrotz ein dienender Beruf. Und das, so glaubte Chris, war alle Mühen wert, für die Nachwelt dokumentiert zu werden.
Tief im Innern
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