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Leises Gift

Leises Gift

Titel: Leises Gift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Iles
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der damaligen europäischen Großmächte absorbiert und betrachtete sich demzufolge als dem Rest des Staates überlegen, zu dem Natchez nominal gehörte. Das verschaffte der Stadt außerhalb ihrer Grenzen wenig Anhänger. Die reichen Baumwollbarone kümmerte Politik so wenig, dass sie ihre prächtige Stadt ohne einen einzigen Schuss an die anrückenden Streitkräfte der Nordstaaten übergaben. Aus diesem Grund hatte Alex, die in Jackson aufgewachsen war, gelegentlich verächtliches Zischen gehört, wenn die Sprache in einer Unterhaltung auf Natchez gekommen war. Doch die unblutige Übergabe war auch der Grund dafür, dass die Stadt den furchtbaren Krieg mehr oder weniger intakt überstanden hatte, ähnlich Charleston und Savannah; sie war eine Welt für sich geblieben, anscheinend immun gegen die Geschichte und außerhalb von Zeit und Raum.
    Als der fruchtbare Boden im Umland von Natchez ausgebeutet war, zogen die Baumwollplantagen nach Norden ins Delta, doch Natchez starb nicht, auch wenn ein Niedergang einsetzte. Jahrzehnte später begannen die ersten Touristen aus der ganzen Welt, Pilgerreisen zu dem ursprünglichen Juwel des Alten Südens zu veranstalten, um die dekadente Opulenz zu bestaunen, die wie durch göttliche Intervention die Jahre überdauert hatte (auch wenn in Wirklichkeit die ehrenamtliche Arbeit zahlloser Damen der Gesellschaft dahintersteckte). Selbst die hartgesottenen Baptisten des ländlichen Mississippi hegten eine widerwillige Faszination für die Stadt am Fluss, deren Bars die ganze Nacht geöffnet blieben und deren von Schwarzen betriebenes Bordell bis nach Paris bekannt war. Die Entdeckung von Erdöl unter den alten Baumwollfeldern erweckte den Geist der Stadt noch einmal vierzig Jahre lang zum Leben, und ein Teil des gefeierten Reichtums kehrte nach Natchez zurück. Als junges Mädchen auf Besuch und als Teilnehmerin des Confederate Pageant, eines historischen Umzugs, war Alex für kurze Zeit in einen sozialen Tornado eingesaugt worden, wie nur altes Blut, neues Geld und schwelende Rassenkonflikte ihn entstehen lassen konnten. Als sie das nächste Mal in Natchez gewesen war – während ihrer College-Zeit, zusammen mit einer Schwester aus der Studentinnenverbindung –, war ihr die Stadt nur noch wie ein blasses Abbild von damals erschienen. Alles war kleiner gewesen, weniger farbenprächtig und pompös.
    Während der letzten fünf Tage hatte Alex den Natchez Examiner jeden Morgen von vorne bis hinten durchgelesen, während sie Thora Shepard auf ihren Läufen gefolgt war. Was sie auf den Seiten der Zeitung gefunden hatte, war eine Stadt, die noch immer mit den Dämonen ihrer Vergangenheit kämpfte. Zur Hälfte schwarz, zur Hälfte weiß, schien die ehemalige Hauptstadt des Plantagensüdens nicht imstande, ihren Platz in der modernen Welt zu finden. Alex fragte sich, was einen Mann wie Chris Shepard nach einem mit fantastischen Ergebnissen abgeschlossenen Studium der Medizin in diese Ecke der Welt zurück verschlagen hatte. Vielleicht lockte die Stadt mit einem Sirenengesang, den nur die Einheimischen hören konnten.
    Alex wanderte zurück zum Pool und setzte Meggie am flachen Ende ab. Die Katze kauerte am Rand und trank vom stillen Wasser, während Alex weiter über den Arzt in seinem weißen Kittel nachdachte. Nach fünf Wochen hektischer Nachforschungen lag ihr Schicksal – und das von Jamie – in den Händen von Dr. Chris Shepard. Sie würde ihm ein wenig Zeit lassen, um über das heutige Treffen nachzudenken, doch nicht allzu lange. Bei ihrem nächsten Besuch würde sie ihm weitere Fakten darlegen – genug, um den Haken zu ködern. Bereits die ersten Brocken hatten sein Interesse geweckt; das hatte sie gespürt. Wer wäre an seiner Stelle gleichgültig geblieben? Sie hatte ihm eine klassische Kriminalgeschichte präsentiert: Alfred Hitchcock zu seinen besten Zeiten. Das Problem war nur: Es betraf Chris Shepard persönlich – und seine Frau. Letzten Endes würde die Entscheidung des Arztes, ob er Alex helfen würde oder nicht, auf Faktoren basieren, die Alex nicht beeinflussen konnte: die dunklen Seiten seiner Ehe, unergründliche emotionale Tiefen, die kein Ermittler jemals ausloten konnte. Doch Alex hätte darauf gewettet, dass er ihr helfen würde.
    Sie war Thora inzwischen seit fünf Tagen gefolgt und war sicher, dass Shepards Frau ein geheimes Leben führte. Auf irgendeiner Ebene musste ihr Mann das wissen. Doch würde er es sich bewusst eingestehen? Die Menschen sahen immer

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