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Leises Gift

Leises Gift

Titel: Leises Gift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Iles
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Raubüberfall betraf. Die beiden jungen Frauen hinter der Theke waren so verängstigt, dass sie kaum reden konnten, als Jim zu ihnen ging und einen Monolog über das Wetter anfing. Wie warm der Herbst gewesen war und wie es früher wenigstens ein-oder zweimal im Jahr in Mississippi geschneit hatte, im Gegensatz zu heute. Eine Angestellte hatte gesehen, wie Jim ohne den Kopf zu bewegen hinter die Theke schielte, die andere nicht. Dafür hatte die andere gesehen, wie er die Kleider seiner Frau vom Hängegestell nahm und sich abwandte, um zu gehen.
    Als er den wartenden »Kunden« passierte, schickte er ihn mit einem wuchtigen Schlag an den Hals zu Boden. Die Angestellte war schockiert, dass ein »alter grauhaariger Kerl« den Mut aufbrachte, einen muskulösen Burschen Anfang zwanzig anzugreifen. Niemand, der Jim Morse gekannt hatte, wäre überrascht gewesen. Er hatte nach seiner Pensionierung noch häufig eine Waffe getragen, jedoch nicht an diesem Tag. Nicht für einen kurzen Abstecher zur Reinigung. Jim war noch damit beschäftigt, die Taschen des bewusstlosen Räubers zu durchsuchen, als die Schaufensterscheibe des Ladens plötzlich explodierte. Eine Angestellte schrie auf und verstummte sogleich wieder, als eine Kugel ihre linke Wange durchbohrte. Die andere Angestellte warf sich hinter der Ladentheke in Deckung. Von da an waren kaum noch Fakten bekannt.
    Der Gerichtsmediziner glaubte, dass der Schuss, der Alex’ Vater getötet hatte, von hinter der Theke abgefeuert worden war und nicht von einem Fluchtfahrzeug, das draußen gewartet hatte. Nicht, dass es eine Rolle gespielt hätte. Nach einem Leben voller Gefahr war Jim Morse an jenem Tag offensichtlich einfach das Glück ausgegangen. Und trotz unermüdlicher Anstrengungen von Seiten des Police Departments, seines alten Partners und trotz einer hohen Belohnung, die ausgelobt worden war, hatte man die Mörder von Jim Morse nie gefasst. Alex wusste, dass ihr Vater nicht an jenem Tag hatte sterben wollen, doch sie wusste auch noch etwas anderes: Er hätte diese Art zu sterben jederzeit dem Tod vorgezogen, den seine Frau nun starb – voll unerträglicher Schmerzen, Stück für Stück.
    Das Geräusch eines zuklappenden Buches riss sie aus ihren Gedanken. Jamie blickte sie an.
    »Ich bin fertig«, sagte er. »Es geht viel einfacher, wenn du bei mir bist.«
    »Ich bin gerne bei dir, Jamie. Es hilft mir auch bei meiner Arbeit.«
    Jamie lächelte. »Du hast nicht gearbeitet. Ich hab dich beobachtet. Du hast nur dagesessen.«
    »Ich habe im Kopf gearbeitet. Ein großer Teil meiner Arbeit findet im Kopf statt.«
    Jamies Lächeln verschwand, und er wandte den Blick zur Seite.
    »Jamie?«, fragte Alex. »Ist alles in Ordnung? Sieh mich an, Liebling. Sieh in die Kamera.«
    Nach einer Weile gehorchte er, und sein trauriger Blick ging ihr bis ins Mark.
    »Tante Alex?«
    »Ja?«
    »Mir fehlt meine Mom.«
    Alex zwang sich, ihre eigene Trauer zu unterdrücken. In ihren Augen stauten sich Tränen, doch sie würden Jamie nicht helfen. Eine Sache hatte sie auf die harte Tour gelernt: Wenn Erwachsene weinten, verloren Kinder vollends die Fassung.
    »Ich weiß, Liebling«, sagte sie leise. »Mir fehlt sie auch.«
    »Sie hat immer gesagt, was du auch gerade gesagt hast. Dass sie im Kopf arbeitet.«
    Alex legte den Kopf in den Nacken und wischte sich die Augen, außerstande, die Erinnerung an die Nacht von Graces Tod zu verdrängen, als sie Jamie gepackt hatte und mit ihm aus dem Krankenhaus geflüchtet war. Sie war nicht weit gelaufen, nur bis zum nächsten Pizza Hut, wo sie Jamie die Nachricht vom Tod seiner Mutter überbracht und ihn getröstet hatte, so gut sie konnte. Ihr eigener Vater war erst sechs Monate zuvor gestorben, und sein Tod hatte Jamie genauso schwer getroffen wie sie selbst. Doch Graces Tod war eine Tragödie von solch unendlichem Ausmaß, dass der Junge sie einfach nicht verarbeiten konnte. Alex hatte seinen Kopf zwischen ihren Brüsten vergraben und leise um die Macht gebetet, Tote zum Leben zu erwecken, während sie inbrünstig hoffte, dass Grace nicht mehr bei klarem Verstand gewesen war, als sie ihren Mann beschuldigt hatte, ihren Tod herbeigeführt zu haben.
    Alex hielt eine offene Hand vor die Optik der Kamera. »Du musst stark sein, kleiner Mann. Sei stark für mich, okay? Die Dinge werden wieder besser, ganz bestimmt.«
    Jamie hob ebenfalls die Hand. »Echt?«
    »Darauf kannst du wetten. Ich arbeite schon daran, jetzt in diesem Moment.«
    »Das ist gut.«

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