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Leises Gift

Leises Gift

Titel: Leises Gift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Iles
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Jamie blickte zu seiner Zimmertür. »Tja, dann mach ich jetzt besser Schluss.«
    Alex blinzelte die Tränen zurück. »Morgen um die gleiche Zeit?«
    Jamie lächelte schwach. »Morgen um die gleiche Zeit, Tante Alex.«
    Dann war der Bildschirm schwarz.
    Alex erhob sich vom Schreibtisch, und die Tränen strömten ihr über die Wangen. Sie stieß Flüche aus und stampfte durch ihr Zimmer wie eine eingesperrte Irre in einer Gummizelle, doch sie wusste, dass sie den Verstand noch nicht verloren hatte. Sie blickte hinunter auf das Zeitungsfoto ihres Vaters. Er würde verstehen, warum sie in diesem klaustrophobischen Motel wohnte anstatt Totenwache am Bett ihrer Mutter zu halten. Ob richtig oder falsch – Jim Morse hätte genau das Gleiche getan: Er hätte versucht, seinen Enkel zu retten.
    Und koste es, was es wolle – Alex würde ihr Versprechen einlösen, das sie Grace gegeben hatte. Wenn das FBI sie feuern wollte, dann zur Hölle mit ihnen allen! Es gab Gesetze, und es gab Gerechtigkeit. Und kein Morse, mit dem Alex verwandt war, hatte jemals ein Problem gehabt, den Unterschied zwischen beiden zu erkennen.
    Alex streifte Hose und Hemd ab, ging nach draußen zum leeren Pool und begann in Unterwäsche Bahnen zu schwimmen. Es war zu spät, als dass sich irgendein schicklicher Mitbewohner beschweren konnte, und wenn ein dämlicher Spanner vom Schlag eines Bill Fennell sich auf einen Plastikstuhl setzen und sie begaffen wollte, während sie ihre Frustration abschwamm, sollte er das ihretwegen tun. Falls er noch da war, wenn sie wieder aus dem Pool stieg, würde sie seinen Hintern über den Parkplatz treten.

8
    Dr. Eldon Tarver spazierte langsam durch den Park, den großen Kopf gesenkt auf der Suche nach verräterischen Federn im hohen Gras. In der einen Hand hielt er eine Nike-Sporttasche, in der anderen eine lange Greifzange von der Sorte, wie sie zum Aufsammeln von Bierdosen und anderen Abfällen benutzt wurde. Doch Dr. Tarver war nicht auf der Suche nach Abfällen. Er sammelte mit seiner Zange tote Vögel ein, die er in Plastikbeutel mit Zipperverschluss packte, um sie in der Sporttasche zu verstauen. Tarver war bereits seit den frühen Morgenstunden unterwegs, vor Einbruch der Dämmerung, und er hatte bisher schon vier Tiere in Tüten gepackt, drei Sperlinge und eine Mauerschwalbe. Zwei schienen noch relativ frisch zu sein, und das verhieß Gutes für die weitere Arbeit später an diesem Morgen.
    Dr. Tarver war bisher nur zwei Menschen begegnet, beides Jogger. Nicht viele wagten sich bis in diese Ecke des Parks, wo die Zweige bis dicht über den Boden hingen und der Pfad an zahlreichen Stellen überwachsen war. Der Anblick Tarvers hatte beide Läufer erschreckt, zum einen wegen seiner bloßen Anwesenheit zu dieser Zeit an diesem Ort, zum anderen wegen seines Aussehens. Es war völlig unmöglich, Eldon Tarver mit einem Jogger zu verwechseln. Er trug keine Shorts und keine Trainingshose, sondern eine kurze, billige Freizeithose und einen Pullover aus dem Casual Male Big & Tall Shop. Tarver war einsneunzig groß mit einer fassförmigen Brust und dünnen Armen, die bedeckt waren von einem Pelz schwarzer Haare. Er war seit dem vierzigsten Lebensjahr kahlköpfig, doch er trug einen dichten grauen Vollbart, was ihm das Aussehen eines Mennonitenpredigers verlieh. Er besaß außerdem die Augen eines Predigers – nicht eines normalen Geistlichen, sondern die durchdringenden, fanatischen Augen eines Offenbarungspropheten hellblaue Iris, die im Zentrum der dunklen Augenhöhlen blitzten wie Münzen am Grund eines Brunnens. Wenn er wütend war, konnten diese Augen brennen wie die eines Dämons, doch das hatten nur wenige Menschen je gesehen. Viel häufiger strahlten diese Augen eine eisige Kälte aus. Einige der Frauen im Medical Center hielten ihn für attraktiv, andere betrachteten ihn als abgrundtief hässlich. Ihr Eindruck wurde noch verstärkt von einem Feuermal auf der linken Wange. Das entstellende Mal war eine ernst zu nehmende arterielle Anomalie, ein Horror, der während seiner Kindheit seinen sanften Anfang genommen hatte und im Verlauf der Pubertät aufgeblüht war wie ein Kainsmal, ein Zeichen des schlechten Gewissens. All diese Dinge zusammen hatten selbst den großen, kräftigen Jogger fünf Schritte nach rechts ausweichen lassen, als Tarver ihm begegnet war – denn fünf Schritte waren nötig, um genügend Abstand zu dem bärtigen Riesen mit seiner Aluminiumzange und der großen Sporttasche einzuhalten.
    Als die

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