Leises Gift
ersten gelben Sonnenstrahlen durch die Zweige der Eichen im Osten schimmerten, war ein weiterer Läufer aufgetaucht, weiblich diesmal, mit weißen Kabeln, die unter dem goldenen Haar hervorlugten. Die Kabel verschwanden in einem iPod, den sie an den Oberarm geschnallt trug. Dr. Tarver wollte sie beobachten, als sie näher kam, doch dann bemerkte er einen weiteren Vogel abseits des Pfads, der noch in den letzten Zuckungen lag. Er war wohl gerade erst aus den Zweigen gefallen.
Die Schuhe der jungen Frau raschelten im trockenen Gras, als sie den Asphalt des Weges verließ und auf die dem Doktor gegenüberliegende Seite auswich. Sie versuchte es so aussehen zu lassen, als geschähe es aus Respekt, doch sie konnte ihn nicht täuschen. Er teilte seine Aufmerksamkeit zwischen Vogel und Mädchen, der eine schnell verendend, die andere voller Leben. Sie versuchte ihn nicht anzustarren, als sie vorbeisprintete, doch es gelang ihr nicht. Zweimal zuckten ihre Pupillen in seine Richtung, taxierten die Entfernung, stellten sicher, dass er sich nicht in ihre Richtung bewegt hatte. Bedrohungseinschätzung war ein so wunderbar hoch entwickeltes Talent – eine der Segnungen der Evolution. Er lächelte, als die junge Frau ihn passierte; dann schaute er ihr hinterher und betrachtete ihre wohlgeformten Pomuskeln mit der kühlen Distanziertheit eines erfahrenen Anatomen.
Nachdem sie hinter einer Biegung verschwunden war, verharrte er still, während er ihr allmählich verfliegendes Parfüm einatmete – ein schlecht beratenes Utensil für morgendliche Läufe, wollte man unwillkommene Aufmerksamkeit vermeiden. Nachdem sich der Duft verflüchtigt hatte, kniete Dr. Tarver nieder, zog Einmalhandschuhe über und nahm ein Skalpell, eine Spritze und eine Petrischale aus seiner Tasche. Schließlich band er sich einen chirurgischen Mundschutz um. Dann öffnete er mit einem einzigen geübten Schnitt den Brustkorb des Sperlings. Mit langem Finger legte er die Leber frei, schob die Spritzennadel in das nahezu schwarze Organ und zog die Spritze ein kleines Stück weit auf, bis ein geringer Unterdruck im Kolben herrschte. Sodann stocherte er mit der Nadel so lange in der Leber herum, bis er mit einem langsamen Blutstrom belohnt wurde. Er brauchte nur einen Milliliter – weniger sogar doch er nahm alles, was er entnehmen konnte, ehe er dem Sperling mit einer schnellen Bewegung das Genick brach und den Kadaver ins Unterholz schleuderte.
Er öffnete die Petrischale und brachte ein paar Tropfen Blut auf die innen aufgetragene Schicht aus zermahlenem Hühnerembryo; dann verteilte er das Blut mit einem sterilen Spatel, den er ebenfalls aus der Tasche genommen hatte. Schließlich schloss er das Gefäß wieder und schob es in die Tasche zu den Plastikbeuteln mit den übrigen Kadavern. Er zog die Einweghandschuhe aus; auch sie kamen in die Tasche. Dann reinigte er sich die Hände mit einem Spritzer Purell. Sein morgendliches Werk war getan. Zurück im Labor, würde er zuerst das Blut des letzten Vogels testen. Er war zuversichtlich, dass das Tier ein Träger gewesen war.
Ein langsames Zittern im Gras an der Stelle, wo er den Kadaver des Sperlings hingeworfen hatte, erzeugte eine Gänsehaut auf seinen Armen. Das dazugehörende Geräusch war ganz leise, doch manche Geräusche aus der Kindheit vergisst man nie. Dr. Tarver setzte die Sporttasche ab und ging behutsam – äußerst behutsam angesichts seiner Größe – auf die Stelle im Gras zu. Sobald er den verrottenden Stamm sah, wusste er Bescheid. Er schloss für einen Moment die Augen, um sich zu beruhigen. Dann griff er mit der linken Hand nach unten und hob den Stamm an. Was er sah, brachte sein Herz zum Jauchzen: keine Grubenotter, sondern eine wunderschöne Spirale aus in der Sonne glänzendem Rot, Gelb und Schwarz.
»Micrurus fulvius fulvius« , flüsterte er.
Er hatte eine Östliche Korallenschlange entdeckt, eine der scheuesten Schlangen in ganz Amerika und ohne jeden Zweifel die tödlichste. Mit einer flüssigen Bewegung wie der eines Vaters, der seinem Kind übers Haar streicht, packte Tarver die Natter hinter dem Kopf und hob sie aus ihrem Versteck. Der leuchtend geringelte Leib wickelte sich um seinen Unterarm – das Tier war sicher fünfundsiebzig Zentimeter lang doch die Korallenschlange war nicht sehr stark. Eine Mokassin-oder eine Klapperschlange hätte sich zur Wehr gesetzt, hätte ihre starken Muskeln benutzt, um sich wegzupeitschen und dann zuzubeißen. Doch die Korallenschlange war
Weitere Kostenlose Bücher