Leises Gift
dich überraschen können«, sagte Thora mit andächtiger Stimme. »Das habe ich doch, oder?«
Er nickte benommen.
Sie nahm ein Plätzchen vom Teller und hielt es ihm an die Lippen. »Hier, du brauchst deine Kraft.«
»Nein, danke.«
Ihre Enttäuschung war nicht zu übersehen. »Ich habe sie ganz allein gemacht, ohne Backmischung!«
»Ich bin wirklich nicht hungrig. Ich esse später welche.«
Sie zuckte die Schultern und schob sich das Plätzchen in den Mund. »Selbst schuld«, sagte sie, und ihre Augen glitzerten, während sie kaute. »Mmmh … beinahe besser als Sex.«
Chris roch die schmelzende Schokolade in ihrem Mund und beobachtete, wie sie mit übertriebenem Vergnügen schluckte. Alex Morse ist nicht ganz dicht im Kopf, dachte er bei sich.
Thora sah ihm in die Augen; dann nahm sie seine Hand und legte sie auf ihre Brust. »Bist du fit für eine zweite Runde? Wir könnten die Chancen um zwei Millionen zu eins oder so erhöhen …«
Er fühlte sich wie ein Astronaut, dessen Sicherheitsleine sich gelöst hatte und der langsam und unaufhaltsam von seinem Raumschiff wegtrieb und damit von allem, das ihm vertraut war. Wie kann man nur so leben?, dachte er bei sich. Wie kann man nur jede Handlung im eigenen Haus hinterfragen?
Er schloss die Augen und küsste Thora mit einer Wildheit, die aus Verzweiflung geboren war.
7
Alex Morses Herz machte einen Satz, als sie sah, wie das kleine rote Symbol grün wurde und andeutete, dass Jamie sich endlich bei MSN eingeloggt hatte. Alex hatte drei Stunden darauf gewartet und sich die Zeit mit Solitaire am Computer vertrieben.
Ein neues Fenster ähnlich einem kleinen Fernsehschirm öffnete sich, doch das Bild blieb zunächst dunkel. Dann wurde das Fenster hell, und sie erblickte Jamie am Schreibtisch in seinem Kinderzimmer im Haus seiner Eltern. Die Unmittelbarkeit der Webcam war im ersten Moment überwältigend. Beinahe so, als wäre man im gleichen Raum mit der Person, mit der man sich unterhielt. Man konnte jede Bewegung ihrer Augen sehen, jede Regung in ihrem Gesicht. In dieser Nacht trug Jamie ein T-Shirt der Atlanta Braves und eine gelbe Baseballmütze. Er blickte Alex nicht direkt an, sondern schaute auf seinen Bildschirm und das Bild, das ihre eigene Webcam dort erzeugte. Sie wusste, dass sie für ihn genauso aussah, denn sie starrte auf sein Bild und nicht in die Optik der oben auf dem Bildschirm montierten Kamera.
»Hi, Tante Alex«, sagte er zur Begrüßung. »Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe.«
Zum ersten Mal an diesem Tag war ihr Lächeln warm und aufrichtig. »Kein Problem, Jamie. Du weißt, dass ich da bin, wann immer du dich einloggst. Was hast du gemacht?«
Jamie lächelte. »Ich hatte ein Baseballspiel!«
»Wie ist es gelaufen?«
»Sie haben uns abgeschlachtet.«
»Das tut mir leid. Wie ist es für dich gelaufen?«
»Ich hab ein Double geschafft.«
Alex stieß einen Jauchzer aus und klatschte in die Hände. »Das ist ja großartig!«
Jamies Lächeln verschwand. »Aber ich hab auch zwei Fehlversuche gehabt.«
»Das ist okay. Selbst die Profis haben Fehlversuche.«
»Zwei in einem Spiel?«
»Klar. Was gab es sonst noch?«
Jamie seufzte wie ein fünfzig Jahre alter Mann. »Ich weiß nicht …«
»Doch, du weißt. Komm schon.«
»Ich denke, sie ist gerade hier.«
»Missy?« Missy Hammond war Bill Fennells Mätresse.
Jamie nickte.
Zorn stieg in Alex auf. Sie schmeckte Kupfer im Mund. »Wieso denkst du das?«, fragte sie. »Hast du sie gesehen?«
»Nein.« Jamie blickte hinter sich, zu seiner Zimmertür. »Dad glaubt, dass ich längst schlafe. Er kam rein, um nachzusehen, ob ich das Licht ausgemacht habe. Ein paar Minuten später habe ich die Hintertür gehört. Ich dachte, dass er vielleicht weggefahren wäre, deswegen bin ich nach draußen zum Geländer geschlichen. Ich habe nichts gesehen, aber nach einer Weile hab ich jemanden lachen hören. Es hörte sich nach ihr an.«
Alex wusste nicht, was sie sagen sollte. »Das tut mir leid, Jamie. Komm, lass uns über was anderes sprechen.«
Der Junge ließ den Kopf hängen. »Du hast gut reden! Warum kommst du nicht her und holst mich hier weg? Dad will mit ihr zusammen sein, nicht mit mir. Ich bin überhaupt nicht müde.«
»Ich kann nicht einfach vorbeikommen und dich holen. Das haben wir doch schon besprochen. Dein Vater möchte dich bei sich haben, Jamie.« Sie war nicht einmal sicher, ob es stimmte. »Er will euch beide.«
Der Junge schüttelte den Kopf. »Nach dem Spiel
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