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Leises Gift

Leises Gift

Titel: Leises Gift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Iles
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hat Dad von nichts anderem geredet als von meinen Fehlversuchen und meinen anderen Fehlern. Nicht ein Wort über mein Double.«
    Alex setzte ein Lächeln auf und nickte, als würde sie ihn gut verstehen. »Eine Menge Väter sind so, Jamie. Dein Großvater war auch so zu mir, als ich Softball gespielt habe.«
    Jamie starrte sie erstaunt an. »Ehrlich?«
    »Ganz ehrlich. Er hat nicht eine Sekunde gezögert, auf meinen Fehlern herumzureiten.«
    Das stimmte nicht ganz. Jim Morse war zu konstruktiver Kritik fähig gewesen, doch er hatte sehr genau gewusst, wie er vorgehen musste, damit man sich nicht schlecht fühlte. Alex erinnerte sich vor allem an vorbehaltloses Lob.
    »Dein Dad versucht nur, dich anzuspornen, damit du dich noch mehr verbesserst.«
    »Kann sein. Ich mag es trotzdem nicht.« Jamie hob ein schweres Buch auf seinen Schreibtisch. »Ich sollte meine Hausarbeiten schon heute Nachmittag machen, aber mir war nicht danach. Kann ich sie jetzt machen?«
    »Sicher.«
    »Bleibst du bei mir?«
    Alex lächelte. »Du weißt, dass ich bei dir bleibe.«
    Jamie lächelte glücklich. Sie hatten das schon viele Male getan seit dem Tod seiner Mutter. Während Jamie seine Aufgaben durchlas, saß Alex da und beobachtete ihn, und ihre Gedanken kehrten in die Vergangenheit zurück. Aus irgendeinem Grund musste sie ständig an ihren Vater denken. Jim Morse hatte seinen Enkel mehr geliebt als alles andere auf der Welt, und das schloss seine beiden eigenen Töchter durchaus ein. Als Grace und Alex jung gewesen waren, hatte Jim sich ein Geschäft aufgebaut, und obwohl er sich sehr bemüht hatte, ein guter Vater zu sein, hatte er seine Kinder hauptsächlich im Vorübergehen gesehen. Doch bei Jamie war alles anders gewesen. Jim hatte endlose Stunden mit dem Knaben verbracht. Er hatte ihm das Angeln beigebracht und die Jagd, das Wasserskilaufen, das Drachensteigenlassen und nicht nur, wie man einen Baseball warf, sondern wie man ihn richtig warf.
    Eines jedoch war sicher, das wusste Alex in ihrem tiefsten Innern. Wäre ihr Vater noch am Leben gewesen und hätte er sich die Anschuldigungen anhören müssen, die Grace auf dem Totenbett gemacht hatte – die Ereignisse der vergangenen Wochen hätten einen völlig anderen Verlauf genommen. Noch in der Nacht von Graces Tod wäre Bill Fennell in eine nackte, kahle Zelle geschleppt und gegen die Wand geschleudert worden, und man hätte ihn so lange bearbeitet, bis er auch das letzte dunkle Geheimnis am Grunde seiner schwarzen Seele ausgespuckt hätte. Wäre diese Behandlung nicht ausreichend gewesen, um die Wahrheit ans Licht zu fördern, wäre Bill zusammen mit Jim Morse, Will Kilmer und einigen anderen Ex-Cops, die inzwischen in der Detektei der beiden arbeiteten, zu einer unfreiwilligen Bootstour aufgebrochen.
    Auf die eine oder andere Weise hätte Bill schließlich alles ausgespuckt, was er über Graces Tod wusste. Und Jamie würde heute nicht in dem hässlichen Kasten von Villa am Rand von Ross Barnett Reservoir in Jackson wohnen. Wenn die Gerichte Jamie nicht vor seinem Vater gerettet hätten, hätte sein Großvater ihn an einen sicheren Ort gebracht, wo er von Menschen aufgezogen worden wäre, die ihn liebten. Und Alex wäre mit ihnen gegangen. Sie hätte nicht eine Sekunde darüber nachgedacht.
    Doch so war es nicht gekommen. Natürlich nicht. Weil Jim Morse genau wie seine Tochter Grace tot war. Alex hatte sämtliche Augenzeugenberichte studiert, doch nicht zwei von ihnen passten nahtlos zueinander – ganz im Gegensatz zu ihrem eigenen Irrsinn in der Bank, als Broadbent niedergeschossen worden war. An jenem Tag hatten alle genau das Gleiche gesehen. Beim Tod ihres Vaters jedoch war es anders gewesen. Im Alter von sechzig Jahren hatte Jim an einem späten Freitagnachmittag eine chemische Reinigung betreten. Normalerweise benutzte er das Drive-Through- Fenster, doch an jenem Tag hatte er sich aus irgendeinem Grund entschlossen, selbst in den Laden zu gehen. Zwei weibliche Angestellte hatten hinter der Theke gearbeitet. Ein junger Schwarzer in einem dreiteiligen Anzug wartete im Laden, doch er war kein Kunde. Die richtigen Kunden lagen hinter der Theke auf den Bäuchen, neben einer Einkaufstüte gefüllt mit dem Bargeld aus der Registrierkasse.
    Von alledem wusste Jim nichts, als er den Laden betrat, doch Alex schätzte, dass er keine sechs Sekunden benötigt hatte, um festzustellen, dass etwas nicht stimmte. Kein Mensch auf der Welt konnte Jim Morse etwas vormachen, was einen

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