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Leises Gift

Leises Gift

Titel: Leises Gift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Iles
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hatte. In ihm regte sich eine Hochstimmung, die bei weitem alles übertraf, was er beim Auffinden der toten Vögel gespürt hatte. Er fühlte sich gesegnet. Gewöhnliche Amerikaner lebten in ständiger Angst, und doch wussten sie niemals, wie nahe sie zu jeder Tages-und Nachtzeit dem Tod tatsächlich waren. Wenn man den Tod suchte, musste man niemals weit gehen, um ihn zu finden.
    Man musste nur lange genug an einer Stelle bleiben, und er kam von selbst.
    Das Labor Dr. Tarvers lag im Norden der großen Ansammlung aus Bürogebäuden, welche das Mississippi State Capitol umgaben. Auf dem Weg dorthin über die Interstate 55 kam er auch am AmSouth Tower vorbei, der die ansonsten eher flache Silhouette der Stadt überragte. Eldon Tarvers Blick ging zur fünfzehnten Etage, zu den blau-schwarzen Fenstern des Eckbüros. Seit fünf Jahren war Tarver fast täglich über diese Straße gefahren und hatte diese Fenster überprüft. Heute jedoch war das erste Mal, dass Sonnenlicht von den Fenstern reflektiert wurde wie von einem Signalmast – reflektiert von der Alufolie, die er vor all den Jahren als Notsignal vereinbart hatte.
    Dr. Tarvers Brust zog sich zusammen, und sein Atem ging flacher. Es hatte schon früher Komplikationen gegeben – kleine Änderungen im Plan oder Missverständnisse bei der Kommunikation –, doch noch nie war es bisher dazu gekommen, dass dieses Signal benutzt wurde. Die Alufolie bedeutete verdammten Ärger. Eldon hatte dieses primitive Signal aus genau dem gleichen Grund ausgewählt, aus dem Geheimdienste derartige Signale verwenden. Wenn man in großer Gefahr schwebte, wenn die Deckung möglicherweise bereits aufgeflogen war, gab es keinen größeren Fehler, als vermittels einer Methode mit seinen Kontaktleuten in Verbindung zu treten, die der Gegner zurückverfolgen konnte. Im Gegensatz zu einem Telefon, einem Computer oder einem Pager war die Folie nicht spezifisch. Niemand konnte jemals beweisen, dass sie ein Signal war. Nicht einmal die NSA konnte Kameras auf jeden Quadratmeter Land richten, von dem aus diese Folie zu sehen war.
    Nein, die Folie war eine gute Idee gewesen, genau wie der im Vorhinein vereinbarte Treffpunkt. Andrew Rusk wusste, wohin er sich wenden musste. Die Frage war: Konnte er dorthin, ohne verfolgt zu werden?
    Denn was konnte das Notsignal anderes bedeuten als unerwünschtes Interesse seitens eines Dritten? Doch wer war dieser Dritte? Die Polizei? Das FBI? Im Grunde spielte es keinerlei Rolle. Tarvers erster Instinkt war, die Ursache zu eliminieren. Allein Andrew Rusk kannte seine Identität oder wusste etwas über seine jüngsten Aktivitäten. Und Eldon Tarver konnte nicht darauf vertrauen, dass Rusk den Mund hielt, wenn er unter Druck gesetzt wurde.
    Der Anwalt mochte sich für stark halten – nach den Standards eines Yuppies des frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts hatte er damit vielleicht sogar recht. Doch diese besondere Subspezies des Homo sapiens hatte nicht die leiseste Ahnung, was wirkliche Stärke oder Härte bedeutete. Keine Ahnung, was echte Autarkie war.
    Sekunden, nachdem er die Alufolie entdeckt hatte, überlegte Dr. Eldon Tarver bereits, wo er einen komfortablen Hochsitz finden konnte mit ungetrübter Sicht auf eine der Straßen, die Rusk Tag für Tag benutzte, um dem Anwalt eine großkalibrige Kugel durchs Großhirn zu jagen. Nur dadurch vermochte er seine eigene Sicherheit zu garantieren. Andererseits – wenn er Rusk erledigte, würde er niemals erfahren, welcher Art die Bedrohung war. Rusk zu eliminieren bedeutete außerdem, den Fluchtplan zu aktivieren, und Tarver war eigentlich noch nicht bereit, den Bundesstaat jetzt schon zu verlassen. Er war noch nicht fertig mit seiner wichtigen Arbeit.
    Er blickte auf die Nike-Sporttasche auf dem Beifahrersitz neben ihm. Der im Vorhinein vereinbarte Treffpunkt lag fünfzig Kilometer entfernt. Hatte er noch genügend Zeit, die Vögel vorher in sein Labor zu bringen? Sollte er ein Treffen mit Rusk überhaupt riskieren? Ja, antwortete sein Instinkt. Kein einziger Todesfall ist bisher von der Polizei als Mord deklariert worden. Nicht öffentlich zumindest. Selbst die Logik diktierte, dass er das Treffen riskieren sollte. Und an dem vorherbestimmten Ort konnte ihm niemand eine Falle stellen.
    Ein neuer Gedanke schoss ihm durch den Kopf. Was, wenn Rusk die Folie als Köder aufgehängt hatte? Was, wenn er irgendwie geschnappt worden war und im Austausch gegen richterliche Milde seinen Komplizen auf einem silbernen

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