Leises Gift
Geiselnahmen zu schützen. Er war in mich verliebt. Ich mochte ihn ebenfalls gerne, doch er war verheiratet und hatte zwei Kinder. Wir waren niemals intim. Und selbst wenn es so weit gekommen wäre – er hätte seine Familie nie verlassen. Niemals. Verstehen Sie?«
Chris nickte.
Sie blickte wieder hinunter ins Wasser. »Ich war eine gute Geisel-Unterhändlerin. Manche sagen, ich war die beste, die das FBI je hatte. In fünf Jahren verlor ich nicht eine einzige Geisel. Das kommt sehr selten vor. Aber letzten Dezember …« Sie brach ab, schluckte, und fuhr mühsam fort: »Mein Vater wurde getötet, als er versuchte, einen Raubüberfall zu beenden. Zwei Monate später wurde bei meiner Mutter Eierstockkrebs festgestellt. Sehr weit fortgeschritten. Sie wissen, was das bedeutet.«
»Das tut mir leid.«
Alex zuckte die Schultern. »Irgendwie verlor ich darüber die Kontrolle. Nur, dass ich es nicht merkte. Mein Dad hatte mich dazu erzogen, hart zu sein, und das habe ich versucht. ›Niemals aufgeben‹, lautet das Motto der Morses. Von Winston Churchill zu meinem Vater und von dort direkt zu mir.«
Chris nickte mitfühlend.
»Ich komme gleich zu den Narben«, fuhr sie fort. »Vor neun Wochen wurde ich zu einer Geiselnahme in einer Bank gerufen, eine Federal Reserve Bank in Washington. In dieser Bank befanden sich sechzehn Geiseln, die meisten Angestellte. Viele Bosse beim FBI hielten es für einen terroristischen Angriff. Andere glaubten, es ginge um Geld … oder beides gleichzeitig. Ein raffinierter Bankraub, mit dem das Kapital für terroristische Operationen beschafft werden sollte. Doch mein Gefühl sagte mir, dass es etwas anderes war. Der Anführer sprach mit einem arabischen Akzent, der in meinen Ohren nicht überzeugend klang. Er war voller Hass und hatte eine fürchterliche Wut auf die Regierung. Ich erkannte, dass er in der jüngeren Vergangenheit einen Verlust erlitten hatte. So ist es bei vielen Menschen, die etwas Extremes versuchen.« Alex schenkte Chris ein gepresstes Lächeln. »Wie ich auch, denken Sie jetzt? Nun, wie dem auch sei – ein FBI Deputy Director namens Dodson hatte den Befehl über die gesamte Operation, und er ließ mir nicht genug Zeit, meine Arbeit zu machen. Ich hatte eine echte Chance, den Anführer zur Aufgabe zu überreden, ohne dass ein einziger Schuss abgefeuert worden wäre. All meine Erfahrung und meine Instinkte sagten es mir. Es standen sechzehn Menschenleben auf dem Spiel, verstehen Sie? Aber es gab jede Menge Druck von oben, schließlich waren wir in Washington mit seiner neuen Geisteshaltung nach dem Anschlag auf das World Trade Center. Also pfiff Dodson mich eiskalt zurück und erteilte dem Geiselrettungsteam den Einsatzbefehl.«
Chris sah, dass sie diese Augenblicke noch einmal durchlebte, während sie den Ablauf schilderte. Wahrscheinlich war sie die Ereignisse im Kopf schon Tausende Male durchgegangen, doch wie oft hatte sie bis jetzt mit jemand anderem darüber gesprochen?
»Es gab keine Möglichkeit, die Situation mithilfe von Scharfschützen zu bereinigen. Das Geiselrettungsteam musste sich gewaltsamen Zutritt verschaffen, und das bedeutete ein extremes Risiko für die Geiseln. Das konnte ich nicht akzeptieren. Also marschierte ich durch den Kordon hindurch zurück in die Bank. Meine Leute brüllten mir hinterher, doch ich hörte nicht hin. Einige der Jungs vom Geiselrettungsteam wurden nicht rechtzeitig informiert. Sie sprengten die Türen und Fenster genau in dem Augenblick, als ich die Lobby der Bank erreicht hatte. Blendgranaten, das ganze Drum und Dran.« Sie betastete ihre vernarbte Wange, als spürte sie die Verletzung zum ersten Mal. »Einer der Bankräuber feuerte durch eine Glasabtrennung hindurch auf mich. Ich wurde hauptsächlich von Glassplittern getroffen. Ich wusste nicht, dass James mir in die Bank gefolgt war. Als ich getroffen wurde, starrte er für einen Moment auf mich hinunter anstatt auf den Schützen. Seine Gefühle für mich waren stärker als sein Training. Und unser Training ist verdammt hart.« Alex fuhr sich durchs Gesicht, wie um Spinnweben wegzuwischen, doch Chris sah die Tränen glitzern.
»Hey«, sagte er, streckte die Hand aus und streichelte ihr über den Arm. »Es ist okay.«
Sie schüttelte vehement den Kopf. »Nein, ist es nicht! Vielleicht eines Tages, aber im Moment noch nicht.«
»Ich weiß jedenfalls eines«, sagte Chris. »In Ihrem gegenwärtigen Zustand sollten Sie keinen Mordfall bearbeiten. Sie sollten sich
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