Leises Gift
stieg vom Rad und lehnte die Rennmaschine gegen die Betonbrüstung.
»Eins zu null für Sie«, sagte er. »Wenn man die Dringlichkeit aus der Gleichung entfernt, ist eine zeitverzögerte Waffe durchaus eine Alternative. Krebs wäre eine Möglichkeit. Wenn es technisch machbar ist.«
»Danke sehr«, sagte Alex leise. Sie lehnte ihr Rad ebenfalls gegen die Brüstung und starrte auf das braune Wasser hinunter, das fünfzehn Meter unter ihnen träge über den Sand strömte.
Chris beobachtete einen Schwall winziger Tropfen, die die Wasserfläche sprenkelten und dann verschwanden. Der Regen ließ nach. »Haben Sie nicht gesagt, dass zwei Opfer Männer waren?«
»Ja. In zwei Fällen waren die überlebenden Eheleute Frauen.«
»Also gibt es in diesem Szenario auch Beispiele für Frauen, die ihre Männer umgebracht haben.«
Alex atmete tief durch; dann blickte sie ihm in die Augen. »Deshalb habe ich mich an Sie gewandt, Doktor.«
Chris versuchte sich vorzustellen, wie Thora heimlich zu einem geheimen Treffen mit einem Scheidungsanwalt nach Jackson fuhr. Es war einfach unmöglich. »Ich erkenne Ihre Logik, Agentin Morse, aber in meinem Fall ist es irrelevant, aus einer Reihe verschiedener Gründe. Der Wichtigste ist, dass ich einwilligen würde, sollte Thora mich jemals um die Scheidung bitten. Und ich denke, das weiß sie.«
Alex zuckte die Schultern. »Ich kenne Ihre Frau nicht.«
»Das stimmt. Sie kennen meine Frau nicht.« Die Betonbrüstung reichte Chris nicht einmal bis an die Hüften. Manchmal pinkelte er während des Trainings von der Brücke in den Creek. Er unterdrückte den Impuls, dies auch jetzt zu tun.
»Es ist wunderschön da unten«, sagte Alex und blickte auf den gewundenen Lauf des kleinen Flusses. »Es sieht aus wie ursprüngliche Wildnis.«
»Das ist es auch, mehr oder weniger. Es ist Bundesland, und seit den 1930er Jahren wurde kein Holz mehr geschlagen. Als Junge habe ich viel Zeit dort unten am Creek verbracht. Ich habe Dutzende von Pfeilspitzen und Speerspitzen gefunden. Die Natchez-Indianer haben schon tausend Jahre lang an diesem Fluss gejagt, bevor die Franzosen hergekommen sind.«
Alex lächelte. »Sie hatten Glück, Doktor, eine solche Kindheit erleben zu dürfen.«
Chris wusste, dass sie recht hatte. »Wir haben nur ein paar Jahre in Natchez verbracht. Meine Vater wurde häufig versetzt. Dad hat mir eine Menge Dinge draußen in den Wäldern gezeigt. Einmal habe ich nach einer Schlammlawine drei riesige Knochen entdeckt. Wie sich herausgestellt hat, gehörten sie einem Wollmammut. Fünfzehntausend Jahre alt.«
»Wow. Ich hatte keine Ahnung, dass es hier in der Gegend Mammuts gegeben hat.«
Chris nickte. »Wir bewegen uns in den Fußstapfen anderer, wo wir auch gehen.«
»In den Fußstapfen der Toten.«
Chris blickte auf, als sich ein weiteres Fahrzeug näherte. Es war ein Park Ranger. Er hob grüßend die Hand und dachte an einen weiblichen Ranger, der für einige Jahre diesen Abschnitt des Natchez Trace überwacht hatte. Nachdem sie weggezogen war, hatte er ihr Gesicht eines Tages auf dem Einband eines Bestseller-Krimis gesehen, der in der Gegend spielte. Der Natchez Trace schien jeden zu berühren, der hier Zeit verbrachte.
»Woran denken Sie, Doktor?«
Er dachte an Darryl Foster und daran, was er ihm über Agentin Alex Morse erzählt hatte. Chris wollte Alex nicht vor den Kopf stoßen, doch er wollte wissen, wie ehrlich sie zu ihm war.
»Von dem Augenblick an, als wir uns zum ersten Mal begegnet sind, haben Sie Ihre Nase in meine persönlichen Angelegenheiten gesteckt«, begann er und sah ihr in die grünen Augen. »Ich möchte zur Abwechslung für eine Minute meine Nase in Ihre Angelegenheiten stecken.«
Er konnte beinahe sehen, wie ihr Schutzwall erschien. Doch nach einigen Sekunden nickte sie zustimmend. Welche andere Wahl hatte sie schon?
»Ihre Narben«, begann er. »Ich sehe, dass sie relativ frisch sind. Ich möchte wissen, woher Sie diese Narben haben.«
Sie wandte sich ab und starrte hinunter in den sich kräuselnden Sand unter der Wasseroberfläche. Als sie schließlich sprach, war ihre Stimme leise. Verschwunden war die professionelle Autorität; an ihre Stelle war eine Aufrichtigkeit getreten, die ihm verriet, dass er etwas hörte, was der Wahrheit zumindest sehr nahe kam.
»Ich hatte einen Kollegen beim FBI«, sagte sie. »Er hieß James Broadbent. Die Leute nannten ihn Jim, doch er zog James vor. Er wurde häufig mit der Aufgabe betraut, mich bei
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