Leitfaden China
unterstützen, wird sie mit Sicherheit den Vertrag neu aushandeln wollen, auch wenn der Vertrag mit dreijähriger Gültigkeit unterschrieben worden ist. Es wäre ein deutlicher Fehler der westlichen Seite, mit dem Hinweis auf den bestehenden Vertrag nicht auf dieses chinesische Anliegen eintreten zu wollen. Noch schlechter wäre der Gang zum Richter, denn Richter sind da, um die Harmonie in der Gesellschaft zu erhalten. Mit dem Gang zum Richter wird deutlich, dass die beiden Parteien offenbar nicht in der Lage waren, das Problem untereinander zu lösen. Sie belasten ihre Gesellschaft damit. In früheren Zeiten ist dies wie gesagt, zuerst mit der Bestrafung beider Seiten geahndet worden, bevor der Richter überhaupt auf den Sachverhalt einging. Unter diesen Umständen ist dann auch anzunehmen, dass die westliche Seite neue Konzessionen machen muss, da sich die Machtverhältnisse auf Grund der Informationslage zu Gunsten der chinesichen Partei verschoben haben.
Wenn sich in der Folge hingegen die Wirklichkeit in fernerer Zukunft zugunsten der westlichen Seite entwickelt, darf diese ebenfalls nicht zögern, die Vertragsdiskussion ihrerseits wieder aufzunehmen. Dies ist schon allein deshalb wichtig, weil die westliche Seite im Interesse der Harmonieerhaltung das letzte Mal auf eine Diskussion zu ihren Ungunsten eingestiegen ist und sich die chinesische Seite dadurch in eine Verpflichtungssituation gebracht hat. In jeder Kollektivgesellschaft, sei dies die japanische, arabische oder chinesische, ist nun klar, dass der Gewinner der letzten Runde in diesen neuen Gesprächen Konzessionen machen muss.
Dieses Hin und Her im Harmoniedenken macht deutlich, warum sich beide Partner an einer win/win Strategie orientieren müssen, wenn die Geschäftsbeziehung langfristig von Erfolg geprägt sein soll. Jedes schamlose Ausnützen einer Schwächesituation der anderen Seite wird sich mittel-oder langfristig zu Ungunsten der eigenen Seite auswirken, weil dann die andere Partei versuchen wird, den verlorenen Grund wieder wettzumachen.
Ebenfalls klar wird, dass sich die westliche Seite nicht auf Vertragsrecht berufen kann, wenn es zu ihren Ungunsten geht. Im Falle einer Verbesserung der westlichen Verhandlungsposition muss sie aber ebenfalls auf einer Neuaufnahme der Diskussionen bestehen und sich nicht aus westlichem Vertragsverständnis sagen, man könne das Thema nicht aufnehmen, weil der Vertrag ja auf drei Jahre abgeschlossen worden sei. Reagiert die westliche Seite im chinesischen Umfeld nicht nach chinesischen Mustern, dann ist sie immer in einer Verliererposition. Steht die Vertragssituation eigentlich für sie, gelangt chinesisches Rechtsverständnis zum Zug, in dem der Vertrag neu diskutiert werden muss. Steht die Vertragssituation gegen sie, gilt situativ plötzlich das westliche Vertragsrecht, das eine Diskussion scheinbar nicht zulässt. Die westliche Seite riskiert damit, dass sie in beiden Situationen verliert, wenn sie sich vor Ort nicht am chinesischen Verständnis orientiert – aber eben nicht nur, wenn es gegen, sondern auch wenn es zu eigenen Gunsten geht. Zudem wird sie überhaupt nicht mehr ernst genommen, weil sie als schwach eingestuft und damit nur noch ausgenommen wird.
Wie in der Modelldiskussion dargestellt, wirkt jedoch nicht nur die Wahrnehmung der fliessenden Realität auf das chinesische Rechtsverständnis ein. Die Tatsache, dass die chinesische Kollektivgesellschaft eine Scham- und keine Schuldkultur hat, ist für das Rechtsempfinden der zweite, grundlegende Faktor zur Entstehung eines anderen Rechtsverständnisses. Man hält sich in China zuerst an die Normen der Gruppe, und erst dann vielleicht auch an die Gesetze der Nation. Schamgesellschaften sind nicht sachsondern orientierungsbezogen. Selbst wenn somit einem Geschädigten sein Recht zugestanden wird, muss er seinerseits auf die schädigende Seite Rücksicht nehmen, um die grundsätzliche Harmonie nicht zu zerstören und damit der schädigenden Partei das Gesicht zu belassen.
Diese rechtlich problematischen Situationen sind vor allem am Anfang einer Geschäftsbeziehung möglich, oder aber in Unternehmen, die sehr gross sind. In diesen letzteren müssen die Vertragsabmachungen und der Geschäftsablauf regelmässig überprüft werden, da sich die Wirklichkeit in chinesischen Augen, wie öfter gesagt, laufend weiterentwickelt und die bestehenden persönlichen Bindungen vielleicht den chinesischen GM, nicht aber den Buchhalter einschliessen. Aber
Weitere Kostenlose Bücher